Barockmusik trifft moderne Komposition, Oper trifft Gebärdensprache. Helmut Oehrings Oper “AscheMOND oder The Fairy Queen” wartet in Wuppertal mit Kontrasten auf.
Ob er den Fakt, dass er das Kind zweier gehörloser Eltern sei, überhaupt noch hören könne, wird Helmut Oehring im Rahmen der Einführungsveranstaltung vom Intendanten Berthold Schneider gefragt. Mag der Frage auch eine unbeabsichtigte Komik innewohnen, sie ist durchaus berechtigt, wenn man sich mit dem Leben und Werk des Berliner Komponisten beschäftigt. Vor allem mit jener Oper, der die Musik Henry Purcells aus dem 17. Jahrhundert zugrunde liegt: “AscheMOND oder The Fairy Queen”.
Oehring, sprach- und hörbegabtes Kind taubstummer Eltern, sieht sich selbst als “Übersetzer” und “Brückenmensch”. Fasziniert von den Werken Purcells, sah er seine Mission nicht nur darin, die alte Musik in die heutige Zeit zu übersetzen und sie mit modernen Kompositionen zu konfrontieren, sondern auch Brücken zu den Menschen zu bauen, denen der Zugang zur Musik zumeist verwehrt bleibt. Was läge ihm, der die Gebärdensprache vor der vokalen Sprache erlernte, da näher, als die Oper für gehörlose Menschen zu öffnen.
So wird die einzige benannte Figur des Stücks, Fairy Queen/MOND, von Oehrings Wunschbesetzung Kassandra Wedel dargestellt, die als gehörlose Schauspielerin und Hip-Hop-Tanzlehrerin zuletzt durch Auftritte im “Tatort” und der Pro7-Sendung “Deutschland tanzt” einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden war. Sie ist das verdunkelnde und erhellende Zentrum der Oper. Im düsteren Licht einer Sonnenfinsternis entfaltet sich dabei ein Werk, das auf eine durchgehende Handlung verzichtet: Oehring und Librettistin Stefanie Wördemann haben Szenen, Texte und Musiken von Purcell, Shakespeare, Heine und Stifter sowie eigene Kreationen zusammengetragen, die ineinander verschachtelt werden.
Im Saal tummeln sich mehrere musikalische Welten: Ein Barockensemble, ein vollständiges Orchester, ein zusätzlicher Kontrabassist und ein E-Gitarrist am rechten Bühnenrand. Die Übertitelung schreibt deutsche Texte mit, übersetzt Gebärden und englischen Gesang, die Musik der Orchester wird ergänzt durch aus allen Ecken des Saals einfallende Stimm- und Geräuscheinspielungen, Blitze durchfahren zuweilen gleißend das Geschehen. Auf der Bühne sind – neben der erwähnten Elfenkönigin – sieben Gesangssolisten, Manfred Böll als wieder und wieder durch das Bild schleichender Erzähler sowie ein Chor zu sehen.
Das zusammengetragene Wimmelbild erschlägt den Zuschauer im ersten Moment und fordert die volle Konzentration über die folgenden drei Stunden. Dass dieser Überfluss an szenischen und akustischen Eindrücken trotzdem funktioniert, ist der exakt ineinandergreifenden Zusammenarbeit der Akteure geschuldet. Dirigent Jonathan Stockhammer vergleicht es mit dem Bau eines riesigen Airbusses, an dem Dutzende Personen über Wochen und Monate beschäftigt sind, den man wieder und wieder testet – und trotzdem erst beim Jungfernflug Gewissheit hat, ob er denn auch wirklich fliegt.
Und dieser Airbus startet vielversprechend. So hilfreich ein roter Faden auch manchmal wäre – der Reiz des Werkes liegt in der Komplexität des Dargestellten. Und wir reden hier von einer “verschlankten” Überarbeitung der 2013 von Claus Guth für die Staatsoper Berlin im Schiller-Theater uraufgeführten Erstfassung. Oehring hat die Musik überarbeitet und mit Sounddesigner Torsten Ottersberg einige neue Zuspiele geschrieben, sodass die Premiere auch eine teilweise Uraufführung darstellt.
Immo Karaman, der die Regie in Wuppertal übernommen hat, wählt als Kontrapunkt zum Wirrwarr des Geschehens ein wohltuend schlichtes Setting. In der Empfangshalle eines biederen Bahnhofes treten biedere Menschen in senfgelben Blusen und Hemden und braunen Röcken und Cordhosen auf, deren Farben man seit der Abschaffung der alten Polizeiuniformen man schon für immer beerdigt wähnte. Unter die Choristen mischen sich sechs Gesangssolisten, die aus der Masse heraus agieren und die Purcell-Passagen sowie die zeitgenössischen Klänge Oehrings allesamt beeindruckend interpretieren. Seltsam elegant blendet die barocke Musik in die perkussiv-rauschende zeitgenössische Musik über. Die E-Gitarre lässt behutsam Dissonanzen einfließen, Kontrabassist Alexander Gabrys erweitert das für möglich gehaltene Klangpotential seines Instruments virtuos und das arhythmische Pochen des Schlagwerks löst den Zuschauer sanft und doch unbarmherzig aus der heute auf uns verspielt wirkenden Musik des 17. Jahrhunderts. Seltsam harsch mutet jedoch der Kontrast in umgekehrter Reihenfolge an, wenn Laute und Geige vom stakkato gerufenen Wortsalat eines experimentellen Oehring-Stückes übernehmen. Ob gewollt oder nicht, hier stößt die plötzlich lieblich daher sprudelnde Barockmusik paradoxerweise unangenehm und schmerzend auf.
So faszinierend die musikalisch-akustische Komponente daherkommt, die unter der fehlenden Handlung mitnichten zu leiden hat – die schauspielerische Anweisung liefert eine unangenehme Schwäche des Stücks. In Ermangelung darstellbarer Ereignisse bedient sich Karaman zu oft des Baukastens derzeit angesagter Inszenierungsmöglichkeiten, die als Verkettung von schluchzenden, entsetzten und stolpernden Darstellern oft abgedroschen wirken. Dies liefert vor allem im zweiten Teil erhebliche Längen, die dem Gesamteindruck schaden. Lichtblick ist sicherlich Kassandra Wedel, die zwar auch vor Klischees wie dem wiederkehrenden plötzlichen Zusammenbrechen und dem unvermeidbaren Einsatz von Kunstblut nicht gefeit ist, mit ihrer Präsenz, ihrem Ausdruck und dem Gesang in Gebärdensprache dem Stück jedoch eine Dimension hinzufügt, die das Interesse aufrechterhält. Als optisch und nonakustisch vom Rest abgehobene, unantastbare Titania Shakespeares und Mond, als antike Rachegöttin Alecto und Purcells Feenkönigin. Ihr Schauspiel ist Leben und Tod, sie bezeugt die Lebens-, Liebes- und Sterbezyklen der Menschen um sie herum, wird wahrgenommen und nicht wahrgenommen.
In diesen Zyklen wird die Vergänglichkeit thematisiert, die Schönheit und das Verwelken, die Abgründe des Liebens und des Lebens. “Alle Leben enden. Alle Herzen brechen. Immer”, schreibt Oehring selbst in das Libretto seines Stückes und es ist gleichsam die Programmatik des Werkes. Die Harmonie des Barockspiels wird zerstört von verzerrter Dissonanz. Treibender Metallklang folgt auf Flötenspiel. Dem Sommer folgt Herbst, der “Überlagerung” die “Verdeckung”, und im Winter schließlich die “Auslöschung”. Spätestens hier assoziiert niemand im Saal die Musik des Barock mehr mit höfischem Tanze.
Welch treffenden Rahmen sie dennoch bietet wird spätestens zum Schluss klar, wenn Countertenor Hagen Matzeit im Epilog das bereits eingangs erklungene Purcell-Stück “Music for a while” im Moment bleischwerer Dunkelheit und eisigster Kälte erneut intoniert: “Music for a while / Shall all your cares beguile”. Musik soll für eine Weile / all deinen Kummer stillen.