“Die Passagierin” von Mieczysław Weinberg wird im Musiktheater im Revier neu inszeniert. Zwei überragende Darstellerinnen und ein Ehrengast in den Hauptrollen dieses Abends.
Kurze Stille im völligen Dunkel. Die Ersten beginnen zu klatschen, zögerlich. Während sich die Darsteller*innen verbeugen, mischt sich immer mehr Begeisterung unter den Applaus und als schließlich die volle Besetzung auf der Bühne steht, tritt eine besondere Frau vor das Publikum: Zofia Posmysz. Der Saal erhebt sich geschlossen. Die 93-Jährige ist die Autorin der Novelle „Die Passagierin“, in der sie ihre Inhaftierung in Auschwitz verarbeitet hat. An diesem Abend wird auf der Bühne des Musiktheaters im Revier auch die Geschichte ihres Überlebens erzählt. In der zweiten Reihe, gleich hinter Posmysz, laufen Ilia Papandreou Tränen die Wangen hinab. Gelöst, vielleicht erlöst sieht sie aus, mit jeder Sekunde glücklicher. Langsam verwandelt sich die Sopranistin zurück: Von Marta, die in der Oper das Schicksal von Zofia Posmysz durchlebt, zurück in die Sängerin Ilia. Die 93-Jährige selber ist in diesem Moment die Bescheidenheit in Person, winkt sichtlich gerührt immer wieder ab. Sie will, aber kann sich gegen den lang anhaltenden Beifall nicht wehren. In all dem drängt sich ein Gedanke auf: Das, was hier passiert ist, war wichtig – nein, es war zwingend notwendig.
Die Inszenierung Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ im Gelsenkirchener Musiktheater kommt mit einem einzigen Bühnenbild aus: Die Bar eines luxuriösen Schiffes, mit dem Lisa Franz und ihr Gatte Walter Richtung Brasilien fahren. In dieser Bar, die auch als Restaurant und Konzertsaal taugt, begegnet Lisa, ehemalige KZ-Aufseherin, nach vielen Jahren Marta, einst Auschwitzgefangene und von Lisa zum Tod verurteilt. Ihre Vergangenheit holt die Deutsche ein. Sie muss sich ihr stellen und sie ihrem bisher unwissenden Gatten beichten, verheddert sich dabei zunehmend in absurden Rechtfertigungen – Walter und sich selbst gegenüber. In Rückblenden brechen die Erinnerungen Lisas in die Bar ein. Die KZ-Häftlinge zwischen all dem Gold und Glamour und die ihnen ausgesetzte Gewalt zerstören das exquisite Flair, deuten die menschenunwürdigen Zustände an. Die detaillierte Personenführung, der clevere, gleichwohl dezente Lichteinsatz und die auf das Nötigste reduzierte Ausstattung sowie das überzeugende Spiel aller Darsteller führen die beiden Ebenen ineinander. Das funktioniert erstaunlich gut, weil Regisseurin Gabriele Reich keine Gegenüberstellung zwischen 60er-Jahre Prunk und erniedrigender Konzentrationslager erzwingt, sondern weil sie es schafft, mit wenigen Mitteln das zu zeigen, was es ist: die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in der Wahrnehmung der Lisa Franz.
Hanna Doria Sturludóttir ringt als diese Lisa Franz mit sich selbst. Jede Bewegung, jede mimische Geste beweist, wie sehr sie die Rolle fühlt, wie sehr sie sich tiefer in ihren Gedankenkonstrukten verrennt. Vor allem aber singt Sturludóttir die anspruchsvolle Partie mit einer verblüffenden Leichtigkeit, verbreitet überall im Saal die Hysterie der hohen Passagen, und bleibt selbst da stimmlich stark, als sie in tiefster Lage ihrem Mann versichert, dass Marta tot sein müsse. Stets bleiben ihre Worte klar verständlich. Zwar bewältigt sie ihre Partie mit dieser Leichtigkeit, doch im Timbre verleiht die Mezzosopranistin Lisa eine unheilvolle Schwere, die der Figur zwar zunächst Selbstsicherheit mitgibt, dann aber immer mehr Kontrast zum wackelnden Rechtfertigungskonstrukt erzeugt. Sturludóttir verfeinert damit das Bild der sich verlierenden Persönlichkeit, auf einer erlebbaren Ebene.
Ihr gegenüber steht eine ebenso eindrucksvolle Ilia Papandreou, die diesen Abend als Marta erlebt. Als ihr nach der Vorstellung der Applaus entgegenschlägt, hat sie beinahe drei Stunden als KZ-Häftling mit Verzweiflung, Hoffnung und Demütigungen gekämpft, gleichzeitig aber als Marta auf dem Schiff eine gnadenlos würdevolle Passagierin geboten. Papandreou reichen bei jedem Einsatz immer nur wenige Töne, um sofort mit unnachgiebig ergreifender Direktheit die Gefühle in das Publikum zu stechen. Bei ihrem ersten Stimmeinsatz schmiegt sie ihre Stimme noch sanft an die zarten Klänge des Orchesters, kurze Zeit später schneidet sie mit scharfer Stimme ihre Verzweiflung in den Saal. Papandreou zeigt facettenreich die zwei sich abwechselnden Zustände einer Frau, gibt sich dabei der Rolle völlig hin. Das ist riskant, führt aber an diesem Abend zu absoluter Höchstleistung.
Der Dandy und der Violinist
Die beiden Herren neben ihnen stellen sie damit in den Schatten, auch wenn die ihre Partien ebenfalls bravourös meistern. Kor-Jan Dusseljee gibt einen dandyhaften Walter, der sich plötzlich mit der grausamen Vergangenheit seiner Frau und damit einem drohenden Ende seiner Karriere konfrontiert sieht. Dusseljee spielt das sehr überzeugend, wenn auch weniger variationsreich als die starke Sturludóttir an seiner Seite. Gesanglich füllt er die Rolle wunderbar aus, gut verständlich passt er seine flexible Tenorstimme immer der Musik an, nur selten scheint er etwas angestrengt. Auf der anderen Seite überzeugt der Bariton Piotr Prochera als Tadeusz, der Verlobte Martas – nicht nur gesanglich, als er zum Beispiel einen widerstandsfähigen Trotz in seine Stimme legt. Als Tadeusz dem Lagerkommandanten eine Chaconne von Bach vorspielt, zeigt sich, dass in dem Sänger auch ein ausdrucksstarker Violinist steckt. Schauspielerisch wirkt er dabei manchmal leider etwas schwerfällig.
Unter den anderen Darsteller*innen spielt besonders Alfia Kamalova als trotzig-stolze KZ-Insassin Katja sehr bewegend, singt herrlich klar und flexibel. Spätestens als Katja gebeten wird, ein Volkslied ihrer Heimat zu singen, fühlt man trotz Barkulisse die Atmosphäre einer schäbigen Holzbaracke. Es ist gerade Weinbergs Musik, die diese Gefühle im immergleichen Bühnenbild kreiert. Seine Komposition folgt der emotionalen Ebene des Geschehens, ergänzt die optisch wahrnehmbare, inhaltliche Handlung durch die hörbare, affektive. Weinberg verknüpft dafür viele unterschiedliche Stile meisterhaft miteinander – angedeutete Jazzpassagen schwingen zu heiterer Tanzlaune, kreischende Streicherdissonanzen infizieren bei Verzweiflung mit Beklemmung – und formt die Übergänge in einem scheinbar natürlichen Fluss.
Valtteri Rauhalammi führt die Neue Philharmonie Westfalen sehr präzise durch diese anspruchsvolle Partitur. Er zeichnet scharfe Akzente der Blechbläser und bringt lockeren Swing in die jazzigen Fragmente. Er beweist dabei den ganzen Abend über ein sensibles Feingefühl bei der Justierung der Stimmungen aus dem Orchester und denen der Bühne. So dirigiert er durch die acht Bilder bis hin zum Epilog, in dem Marta in Erinnerung an ihre Mitinsassinnen den entscheidenden Satz singt: „Wenn eines Tages eure Stimmen verhallt sind, dann gehen wir zugrunde.“ Mit zartem Nachdruck bittet Weinbergs Musik darum, niemals zu vergessen, und überlässt letztendlich die Zuschauer*innen sich selbst ins Dunkel. Es fällt schwer, Begeisterung zu zeigen. Diese Oper zu diesem Zeitpunkt richtet viel an, wird zu einem bisher unerlebten Ereignis und ist gerade deshalb zwingend notwendig.