Warten auf der Gegenschräge

Foto: Walter Mair/Ruhrtriennale 2018

Wie Regentropfen fallen die Trommelschläge der 21 Schlagzeuger von der Decke der Bochumer Jahrhunderthalle. Die Musiker haben sich in den Metallstreben hoch oben verschanzt. Darunter erstreckt sich Christoph Marthalers provisorisches Universum. Die Zuschauertribüne steht etwas schräg im Bühnenraum, wirkt wie zufällig hineingeworfen. In der 130 Meter langen Halle verteilt stehen noch drei weitere Tribünen – Schwesterplaneten?

Während von oben die Trommeln aus Charles Ives Universe Symphonie prasseln, kommen unten nacheinander Schauspieler durch einen Check-In Schalter in die Halle um sich auf eine der anderen Tribünen zu setzen. Das Geschehen scheint einem Muster zu folgen. Die Regeln, denen dieses Muster unterliegt, bleiben dem Beobachter verborgen. Universe, Incomplete heißt das Stück. Charles Ives habe es geschrieben. Er schrieb zwischen 1911 und 1928 Skizzen zu seiner Universe Symphonie, ohne diese jemals fertigzustellen. Die zweieinhalbstündige Bühnenfassung der Ruhrtriennale zitiert aus dem gesamten Werk des Komponisten.

Wir sehen: Tribünen, ein Kino, Kirchenbänke, eine sehr lange Tischreihe, Eisenbahngleise mit einem darauf fahrenden Lokschuppen. Eine in der Industriekulisse etwas deplatziert wirkende, bunte, pittoreske Brücke, einen Check-In Schalter wie am Flughafen. Manche Dinge sind schlicht zu weit entfernt, um sie zu erkennen.Ein Bauplan wie aus einer Ives-Partitur. Der Kosmos, den die Bühnenbildnerin Anna Viebrock in die Jahrhunderhalle gesetzt hat, ist nur der Äther, in dem Charles Ives Musik schwingen kann.
Der amerikanische Komponist arbeitet mit Schichtungen von klassischen und populären Themen, ohne diese miteinander in Beziehung zu setzen. Aus der Gleichzeitigkeit von Märschen, Volksliedern und einfachen Rhythmen wird ein Geflecht verschiedener Melodien, Harmonien und Tempi. Es entsteht eine neue große Musik. Das Ergebnis ist disparat und überfordert. Erst wenn man den Fokus auf eines der individuellen Elemente zieht, entdeckt man wieder eine Stringenz. Wer die Musik ungefiltert hört, bekommt ein Gefühl von ästhetischer Sinnlosigkeit in einem Universum, in dem sich alles nebeneinander um sich selbst dreht. Die Darsteller in Christoph Marthalers unendlichen Weiten schrumpfen zu lächerlichen Spielfiguren, die unendlich kleine Handlungen vollziehen, ohne dabei einen existentiellen Sinn zu erfüllen. Wenigstens sehen sie dabei gut aus. Das ist beruhigend.
Die fantastisch absurden Texte von Gerhard Falkner und Martin Kippenberger klingen wie im Fiebertraum, drehen sich vornehmlich um „diese Gummidinger mit den Haken dran“. Andere Texte sind in anderen Sprachen, die vielleicht existieren.

Postdramatisches Musiktheater

Ein Tubist, der offenbar seinen Auftritt verpasst hat, bringt die ganze Verzweiflung zum Ausdruck, die hier brodelt. Mit langen Schritten, seine Tuba fest umklammernd, hastet er vom einen Ende der Halle zum anderen. Resigniert schaut er sich um, findet seinen ihm zugewiesenen Platz nicht. Das Problem kann nicht gelöst werden, zumindest nicht im Verlauf der nächsten zwanzig Minuten. Unablässig spurtet er von einem Ende der Halle zum anderen. Die Unausführbarkeit seiner Aufgabe wird in den Dimensionen der Bühne zu einem weiteren Trabenten der Musik.

Dieser totale Theaterzirkus senkt die Toleranzschwelle seines Publikums sukzessiv bis endlich ein zehn Meter großer Dinosaurier durch die Halle schweben kann, ohne wirklich großes Aufsehen zu erregen.
Längst hat sich die Inszenierung mit seinem Publikum darauf geeinigt, dass es hier nichts zu verstehen gibt. In zweieinhalb Stunden wird das facettenreiche Werk des amerikanischen Komponisten miteinander verschränkt. Die eigentlichen Götter in unserem Kosmos bleiben unsichtbar: über 100 Musiker, in dem stählernen Skelett der Jahrhunderthalle verteilt, teilweise unter der Zuschauertribüne. Ein ganzes Orchester in einer nichtsichtbaren Ecke der Halle. Wie man diesen Klangkörper in einer solchen Räumlichkeit derart präzise hörbar macht, bleibt wohl das Geheimnis des Dirigenten Titus Engel. Aber es funktioniert und ist beeindruckend.

Die Darsteller ziehen weiter ihre Kreise, solitär oder in Gruppen. Jeder weiß genau, was er tut – aber nicht warum. Die Frage nach dem „warum“ wird nicht gestellt. Der Sinn in diesem Universum ist längst abgeschafft. Charles Ives’ Unanswered Question verklingt in den Weiten des Raums — noch einmal das fragende Motiv der Trompeten in den seidenen G-Dur-Teppich der Streicher, auch diesmal wissen die Holzbläser keine Antwort. Die Schauspieler verharren in ihren Positionen. Das Licht geht aus. Das ist kein Schluss. Im Universum gibt es keinen Schluss, erst recht nicht in einem unvollendeten.

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