Lässt sich inszenierter Wahnsinn von der Bühne auf ein reales Publikum übertragen? Unklar. Definitiv klar ist jedoch: Das letzte Wochenende in Münster war ein Außergewöhnliches. Dafür sorgte Benjamin Pfordt, der die erste deutsche und umfangreichste Bearbeitung der Mono-Oper „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“, frei nach Nikolai Gogol, komponiert hat.
Belustigung und Entsetzen. Wahnsinn und Vernunft. Wahnvorstellung und Realität. Gegensätze, die sich einander bedingen. Ist die Einsicht genau dieser Zerrissenheit – von Gut und Böse, von gesellschaftstauglich und verrückt – die Moral des Abends? So surreal und doch so echt.
Anderthalb Stunden lang wird die Gedankenwelt des Protagonisten Aksentij Ivanovič Popriščin, gespielt von Bastian Röstel, in Form von Tagebucheinträgen skizziert. Im Zentrum steht das berufliche und soziale Scheitern des selbsternannten Titualarrates – ein Ratstitel für jemanden ohne eindeutige Aufgabe im Amt. In seinem Trott als Bleistiftanspitzer des Direktors, mit vernarrter Liebe zu dessen Tochter Sophie, entfernt sich Popriščin immer weiter von der Realität. Verloren in seiner wirren Gedankenwelt, merkt er gar nicht, was um ihn herum geschieht. Harmlose Hirngespinste von sprechenden Hunden entwickeln sich zu völligem Realitätsverlust. Von der Gesellschaft ausgelacht, findet sich der Protagonist im Irrenhaus wieder, wo er überzeugt verkündet, der neue König von Spanien zu sein. Als zentraler Gegenstand fungiert der Bleistift, der repräsentativ für seinen Job steht und im Laufe der Oper zum Werkzeug seiner Wandlung zu König Ferdinand VIII wird.
In den Nebenrollen wird im Blick auf das Verhältnis von Wort und Ton mit den vorgegebenen Klischees gespielt. Die musikalische Umsetzung des Abteilungsleiters lebt von Dissonanz und “kühlen” Skalen. Bei der Instrumentation setzt Pfordt hier auf Blech und Schlagwerk. Im Gegensatz dazu wird die verwöhnte, naive Direktorstochter musikalisch durch reine Tonfolgen und eine helle Klangfarbe gestaltet. Hier dienen hohe Streicher und vordergründig die Querflöte als instrumentale Begleitung. An dieser Stelle könnte eine Diskussion über Instrumentenklischees und ihre Personifizierung folgen. Aber was Pfordt hier macht, funktioniert! Die Komposition ist scharfsinnig und für die jungen Studierenden eine ziemliche Herausforderung. Völlig eins mit seiner Rolle gelingt es Dirigent Julian Frebel, den Hauptdarsteller über 90 Minuten Spielzeit einzufangen und mit dem 17-köpfigen Orchester zusammenzubringen.
Gedankt sei dem Orchester, das wiederum Halt gab, wenn die Gedanken überkochten und sich entzwei teilten. Dort hieß es meist: Hauptsache extrem! Das Ergebnis war ein staunendes Publikum. Der Grat von Faszination, Begeisterung und Entsetzen ist erschreckend schmal und hier kaum zu unterscheiden. Zwischen kühler Distanz, voller Hingabe und Überwältigung war es wirklich nicht einfach, einen klaren Kopf zu bewahren. Die Augen klebten an der Bühne, Röstel performte in einer Art Sprechgesang mit gestalterischer Freiheit. Mal völlig in Rage, mal sehr bedacht, war er den Großteil der Zeit alleine auf der Bühne und bot dem Publikum jede vorstellbare Emotion.
Im Publikum sitzt ein Fotograf, der ständig hektisch seine Kamera zückt, um eben Beschriebenes bildlich einzufangen. Einen wichtigen Aspekt von Liveperformances bindet Pfordt in seine Inszenierung mit ein: die Nutzung des Raumes und die Nähe zum Publikum. Ein Weg entlang der Zuschauer*innen führt die Schauspieler*innen auf die Empore, die als Nebenbühne dient.
Auch auf medialer Ebene überzeugt die Inszenierung mit Diversität. An der Wand über der Bühne ergänzen per Beamer übertragene Videoaufnahmen die Gedanken-welt des Protagonisten. Dort werden außerdem die Daten der Tagebucheinträge angezeigt, die gegen Ende nur noch aus wirren Buchstabenkombinationen bestehen.
Es bleibt abzuwarten, ob und was es von den aufstrebenden Künstlern in der Zukunft zu hören, sehen und lesen gibt. Popriščin wird für Pfordt und Röstel beruflich und vermutlich auch privat ein kleiner Meilenstein sein. Die Oper geht tiefer unter die Haut, als dem Durchschnittsbürger lieb ist. Und wussten Sie, dass der Kaiser von China unter der Nase eine Warze hat? Falls nicht, sollten Sie dringend Nikolai Gogol lesen und zur nächsten Aufführung dieser Oper gehen.
Bildcredits:
Alle Fotos © Mascha Müllejans