Die Luft steht. Es ist stickig und warm. Von der Leinwand hinter der Bühne blickt uns ein in grünes Licht getauchter Schostakowitsch nachdenklich an. Das Konzert ist ausverkauft.
Beim Eröffnungskonzert der 10. Internationalen Schostakowitsch Tage in Gohrisch war die Musik nicht einfaches Konsumgut – schon vor Konzertbeginn in der Konzertscheune mahnte der künstlerische Leiter Tobias Niederschlag in seinen Grußworten davor, sich vor ihr zu verschließen. Und dann kamen vier Werke für Streichquartett von den wohl drei bekanntesten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts – und einem, der leider trotz seines Potenzials kaum bekannt ist. Während Strawinsky, Prokofjew und Schostakowitsch von klassischen Musikliebhabern gefeiert werden, ist Mieczysław Weinberg ein Komponist, der noch keinen entsprechenden Platz in der Musikgeschichte bekommen hat. Dieses Jahr wäre er 100 Jahre alt geworden. Die vier doch so unterschiedlichen Komponisten vereint das Schicksal, in einer Zeit von totalitären politischen Verhältnissen und Kriegen gelebt zu haben.
Strawinsky wurde 1882 in Sankt Petersburg geboren und wanderte mit 30 Jahren aus. Nach Russland, in seine Heimat, kam er erst zu seinem 80. Geburtstag wieder. Sein Ballett Le sacre du printemps machte ihn zu einem der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrunderts. In der Sowjetunion jedoch blieb er verfemt – man warf ihm Formalismus vor. Debussy soll einmal gesagt haben, Strawinsky sei wie ein Kind, das manchmal seine Finger in die Nase der Musik stecke.
Das Konzert begann mit seinen früh komponierten Drei Stücken für Streichquartett. Im ersten Satz, einem kurzen Tanz, ist von den „vier geistreichen Personen, die sich unterhalten“, Goethes Metapher für das Musizieren im Streichquartett, nichts zu hören. Immer wieder unterbricht die zweite Geige die um sich selbst kreisende erste, um ihr vehement zu widersprechen. Jedes Mal mit demselben Argument. Kaum eine Minute dauert dieser Tanz, da geht es schon zum nächsten Satz über, der später die Überschrift excentrique erhielt. Mit plötzlichen Stimmungswechseln und leeren Klängen fordert das kurze Stück vom Publikum große Konzentration, die es in Gohrisch tatsächlich aufbringt. Beim leisen dritten Satz beginnt plötzlich von draußen ein Vogel zu singen – er ist so deutlich hören, als säße er mit in der Scheune. Annähernd perfekt mischt er seinen Gesang in die freie Tonalität der vier Streicherstimmen ein. Mit seinen Klängen ähnelt er den nach einer Melodie suchenden Geigen, macht den Ursprung dieser modernen Musik hier live erfahrbar, lockert die schwer zugänglichen Klänge ein bisschen auf.
Die Musiker stampfen
Auch in Prokofjews 1. Streichquartett schweigt der Vogel nicht: Er mischt sich in die mittlerweile wilde Diskussion der vier Streicher ein. Das Stück entstand 1930 im amerikanischen Exil und beginnt mit einem lebendigen Allegro. Die vier Musiker des Quatuor Danel nehmen die Lebendigkeit auf, sie stampfen vor Emotion gepackt immer wieder mit den Füßen auf den Boden. Sie scheinen sich ihrer Interpretation absolut im Klaren. Nach dem zweiten Satz applaudiert das Publikum. Dabei folgt erst noch der dritte Satz mit seinem tanzenden Charakter, seiner Dichte, seinen mit Qual erfüllten Melodien. Die Pause ist nach der schwierigen Musik und der stehenden, warmen und feuchten Luft dringend nötig.
Schon in der ersten Hälfte war Schostakowitsch gegenwärtig, obwohl noch nichts von ihm gehört wurde – es sind die avantgardistischen Klänge, die fast wie Schlagwerk behandelten und klingenden Instrumente. Kaum jemand hätte da in diesem Stück wohl eindeutig Prokofjew erkannt, zu ähnlich sind die Klänge denen, die auch Schostakowitsch schrieb. Die beiden Komponisten begegneten sich zum ersten Mal im Jahr 1927, als Prokofjew in die Sowjetunion zurückkehrte. Aufgrund ihrer Rivalität blieben sie jedoch auf Distanz. 20 Jahre später wurde Prokofjew vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei beschuldigt, ein von westlichen Ideen infizierter Formalist zu sein. Trotzdem erhielt er 1950 den Stalinpreis. Er starb am selben Tag wie der sowjetische Diktator.
„Die Jahre, in denen Musik nur für einen kleinen Kreis von Ästheten geschrieben wurde, ist vorbei“, schreibt Prokofjew damals in sein Notizbuch. „Heute stehen die breiten Massen des Volkes der ernsten Musik unmittelbar fragend und wartend gegenüber; falls ihr die Massen zu Fesseln versteht, wird eine Zuhörerschaft entstehen, wie sie noch zu keiner Zeit der Welt existiert hat.“
Intensive, schnelle Rhythmen
Im Gegensatz zu Prokofjew war Weinberg einer der besten Freunde Schostakowitschs. Dabei erlitt Weinberg selbst wohl das härteste Schicksal der vier Komponisten. Da er Jude war, musste er aus Polen flüchten und ging nach Taschkent. Seine gesamte Familie wurde ermordet. Doch auch in Russland fand er keinen Frieden und wurde 1948 von dem stalinistischen Regime einige Monate inhaftiert. Schostakowitsch setzte sich in dieser Zeit mit einem mutigen Brief für seinen Freund ein.
Weinbergs 5. Streichquartett beginnt mit einer einsam erzählenden Geige. Primarius Marc Danel spielt den Beginn besonders gefühlvoll. Insgesamt wirken die Musiker lebendiger und kommunikativer als in der ersten Hälfte. Die fünf Sätze sind extrem unterschiedlich: Während der zweite Satz fast lustig wirkt, schleudern sich die Musiker in den intensiven, schnellen Rhythmen des dritten Satzes beinahe selbst aus den Sitzen. Nach dem lyrischen vierten Satz folgt ein energetisches Fugato als Schlusssatz. Gerade dieser wirkt vor dem Hintergrund der realen Fluchterfahrungen Weinbergs beeindruckend intensiv. Belohnt wurden Weinberg und das Quatuor Danel mit intensivem Fußgetrommel, und das, obwohl allen bewusst war, dass der Höhepunkt des Abends noch bevorstand.
Denn Schostakowitschs 8. Streichquartett spielten die Streicher am Ende des Konzerts. Für dieses Stück entschloss sich sogar der Vogel zu schweigen. Ohne dieses Streichquartett, das in Gohrisch geschrieben wurde, gäbe es keinen äußeren Anlass für die Schostakowitsch Tage in Gohrisch. Es ist Schostakowitschs intimstes Werk. Das Quatuor Danel nahm schon den ersten Satz erstaunlich schnell auf, anstatt das klagende Fugato der ersten Takte auszukosten. Auch bei den nächsten Sätzen wählten sie das Tempo schneller als gewohnt, und bekamen in der Folge die physisch und psychisch aufreibende Komposition zu spüren – teilweise kamen Töne nicht so gerade und sauber, wie es in einem langsameren Tempo möglich gewesen wäre. Umso stärker war dafür der Ausdruck des Stückes, den sogar das musikalisch schon fast satte Publikum zu spüren bekam.
Insgesamt hatte das Konzert eine regelrecht erschlagende Wirkung – nicht nur durch die extrem gut gespielte anspruchsvolle Musik, sondern weil sie gleichzeitig die gemeinsame Vergangenheit der Komponisten musikalisch beleuchtete. Durch den recht ähnlichen Stil der Stücke ging nur leider der Fokus etwas verloren. In der Musik passierte so viel, gerade Weinberg forderte die Zuhörer mit der großen Variation in seinen Sätzen – und dem 8. Streichquartett von Schostakowitsch konnte man sich kaum entziehen
Fotos: Matthias Creutzinger