Alles ist Teil der Musik

Ich befinde mich in einer alten Scheune. Von der Decke hängen Scheinwerfer und Lautsprecher, die an Holzbalken angebracht sind. Der Raum ist in orangenes Licht getränkt. Am Ende der Scheune befindet sich eine erhöhte Bühne. Davor sind Stühle in Reihen aufgestellt. Alles ist provisorisch eingerichtet, aber doch stimmig. Die goldene Harfe wirkt inmitten dieser Umgebung wie ein eigenes Kunstwerk.

Es ist der letzte Tag der 14. internationalen Schostakowitsch Tage in Gohrisch. In den letzten zwei Tagen habe ich hier bereits drei Konzerte gesehen. Heute findet ein Aufführungsabend als Matinee statt. Oscar Jockel dirigiert die sächsische Staatskapelle Dresden und Mitglieder des Gustav Mahler Jugendorchesters. Die Pianistin Yulianna Avdeeva und das Orchester betreten die Bühne. Ein Orchester in dieser Umgebung zu sehen, fühlt sich besonders an.

„Metamorphosen“ für kleines Orchester von Krzystof Meyer ist das erste Stück des Matinee. Meyer selbst war ein Freund Schostakowitschs und hat sich mit seinem Schaffen intensiv auseinandergesetzt. Hier in Gohrisch – dem Ort, an dem Schostakowitsch selbst komponiert hat – führt er nun seine eigene Musik weiter und haucht dem Festival persönlichen Charme ein.

In „Metamorphosen“ werden vielfältige Klänge verarbeitet, Bewegung und Farbe prägen das Stück. Durch langgezogene Steigerungen im Spannungs-Auf-und Abbau, fühle ich mich wie in einem Märchenwald. Ich schließe die Augen. Um mich herum befinden sich Bäume in allen möglichen Grün-Tönen. Durch die Zweige glitzert Sonnenlicht. Der Boden besteht aus weichem Moos und neben mir steigt Nebel auf. Das Gefühl wird durch Vogelgezwitscher von draußen verstärkt. Die Streicher bringen immer wieder eine mystische Ruhe herein. Viele kurze Töne mit Pausen klingen wie bunte Farbspritzer. Sie zerspringen in alle Richtungen. Das Stück endet mit einer hohen Note, einer Art Fragezeichen, was viel Raum zur Interpretation lässt. Applaus. Meyer verbeugt sich.

Alfred Schnittke war ein deutsch-russischer Komponist. Sein Konzert für Klavier und Streichorchester weist starke Kontraste auf. Das zeigt sich schon in den neun Sätzen, die von Andante über moderato, also gemäßigtem Tempo, bis hin zu maestoso, also einer majestätischen Spielweise, geprägt sind. So spiegelt sich auch mein Empfinden während dem Hören mit der Absicht Schnittkes wieder, eine Balance zwischen „Sonnenschein“ und „Gewitterwolken“ zu finden, die am Ende in tausend Stücke zerbricht.

Zwei Männer klappen den Flügel auf. Spannung macht sich breit. Yulianna Avdeeva und Oscar Jockel betreten die Bühne. Yulianna beginnt ganz sanft im piano. Zwischendurch ertönt Vogelgezwitscher von den Decken der Scheune. Geheimnisvoll. Jetzt steigert sich alles. Yulianna lässt zunächst allein mehrere Akkorde hintereinander ausklingen, bis die Streicher kraftvoll einsteigen. Starke Dissonanzen und tiefe Töne vom Bass zeigen einen starken Kontrast zum Flügel. Wieder steigert und steigert sich das Stück. Überforderung. Überall passiert etwas. Es ist stürmisch. Die Spannung wird so groß, dass ich die Auflösung nur herbeisehne. Die Auflösung kommt – die Streicher spielen Melodien, die mich in andere Sphären abtauchen lassen.

Yulianna sitzt aufrecht und klar am Flügel. Nur ihre Hände bewegen sich auf den Tasten hoch und runter und hoch und runter. Oscar Jockel ist leider nicht besonders gut zu sehen, da er hinter dem Flügel dirigiert. Jetzt steigert sich das Stück wieder. Yulianna hat mehr Ausdruck im Körper. Tiefe Akkorde erklingen. Es fühlt sich so an, als wolle die Befreiung unbedingt kommen, aber es nicht endgültig schaffen. Ein Sturm, eine negative Kraft, hält immer noch etwas zurück. Das Stück endet ruhig. Ich frage mich innerlich: Kommt noch etwas? Wie geht die Geschichte aus? Irgendwie ist alles gut, aber dennoch verwüstet.

Nach der Pause wird dann doch noch ein Stück von Schostakowitsch gespielt. Mit einer Besonderheit: Das Streichquartett Nr. 4 erklingt in Gohrisch erstmals als Fassung für Kammerorchester, 1990 von Rudolf Barschai angefertigt. Barschai machte sich unter anderem dadurch einen Namen, Streichquartette von Schostakowitsch zu Kammersymphonien zu bearbeiten. Im ersten Satz, Allegretto, sind die Streicher im Mittelpunkt und steigern sich von pianissimo bis forte. Die tiefen Töne der Celli klingen warm. Zwischendurch ertönt eine Oboe und geheimnisvolle Klangfarben entstehen. Es klingt ganz so, als unterhielten sich Streicher und Oboe. Im vierten Satz, wieder Allegretto, bringen mich schwungvolle Passagen in den gegenwärtigen Moment. Zurück in die alte Scheune, in orangenes Licht getränkt.

Nach dem Konzert spreche ich mit Oscar Jockel. Er schwärmt: „Was mich wirklich begeistert, ist die Kommunikation mit dem Orchester. Wenn im Hier und Jetzt Momente entstehen.“ Ich frage ihn, was während dem Dirigieren durch seinen Kopf geht: „Bevor man den ersten Ton spielt, muss man schon den letzten Ton im Kopf haben. Darin liegt die Herausforderung. Dass man zum einen den Überblick hat, zum anderen ganz im Hier und Jetzt da ist und helfen kann, um die Momente zu erschaffen. Das erfordert eine hohe Konzentration.“ Dennoch könne er den Moment genießen und auch loslassen. Es gebe Stellen, da brauche das Orchester nicht seine Unterstützung, da begleite er nur. Dann gebe es wieder Stellen, bei denen er ganz da sein müsse, bei denen die Musiker:innen seine Hilfe bräuchten. Die Atmosphäre fasziniert ihn immer wieder. „Es ist ganz einzigartig und zauberhaft. Alles ist Teil der Musik.“

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