Fotos: Barbara Aumüller
»Die Passagierin« von Mieczyslaw Weinberg an der Frankfurter Oper: ein Ereignis
Es ist nicht zu fassen. Der Geiger Tadeusz gibt ein Konzert im KZ, dicht umringt von Mithäftlingen. Drei Soldaten der SS stärken dem Lagerchef den Rücken. Er gab den Befehl zum Konzert, er will seinen Lieblingsmarsch hören. Tadeusz wird nicht gefällig sein. Unerbittlich, bis ins Mark entschlossen beginnt er zu spielen. Aus dem Orchestergraben erstrahlt im Geigenunisono Bachs Chaconne. Im Original ist das Stück für Solovioline, hier kulminiert es zum Gipfelpunkt menschlicher Kultur. Das ist zu viel! Die Töne verschmelzen zu einem Spiegel, in dem der Nazi seine Erbärmlichkeit erkennen muss. Die Geige wird mit Lederstiefeln zu Holzsplittern zermalmt. Tadeusz geht ins Gas. Das Orchester spielt weiter Bach. Desolat, morendo.
Mieczyslaw Weinbergs »Die Passagierin« ist ein seltenes Stück auf den Bühnen, es ist zum zweiten Mal auf einem deutschen Spielplan. Wir sehen an der Oper Frankfurt ein Stück über die Verbrechen im NS-Regime, Spielort ist das KZ. Das Werk wurde 1968 beendet. Mieczyslaw Weinbergs Oper ist polyglott – seine Musiksprache entscheidet sich nicht für Zwölftontechnik, radikalere Strömungen oder rückgewandte Tonalität. »Die Passagierin« ist ein komplexer Teppich, der in jedem Takt einen neuen Stilfaden einwebt. Ein Militärmarsch von Schubert ist rhythmisch überdreht und harmonisch verzerrt, dazu tanzende Nationalsozialisten, die nichts bereuen. Beethovens Hauptmotiv aus der fünften Sinfonie klingt bei Weinberg weniger wie ein Klopfen des Schicksals, es hört sich an wie das Pochen eines überzeitlichen Gewissens. Diese Multilingualität der Musikstile und Epochen ist auch textlich vorhanden. Täter und Opfer singen deutsch, polnisch, russisch, griechisch, französisch und jiddisch.
Die Handlung geht auf Zofia Posmysz zurück. Sie wurde 1923 geboren, 1942 wegen Flugblätteraktionen verhaftet und nach Auschwitz deportiert, später nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Die Befreiung erlebte Posmysz 1945 durch die amerikanische Armee. Heute ist sie 92 Jahre alt und besuchte in Frankfurt die Premiere der Aufführung. Es ist ihre Geschichte, ihr Leben.
Die Drehbühne in Frankfurt steht still. Posaunen und Hörner rattern mit schlitzenden Akzenten eine ineinandergreifende Figur aus Quarten und Quinten herunter. Das Blech lässt scharfe, aalglatte Kanten zurück, an denen Töne in Zeitlupe herabrinnen. Die Quarte symbolisiert während der Oper die Angst in Auschwitz. Zusammen mit dem Todesmotiv, dem Tritonus, entsteht die Verstrickung zum Selektions-Motiv. Die Musik lebt von diesen versteckten Assoziationsbrücken, die unterschwellig wirken.
Die Oper macht einen Zeitsprung. 1959 thronen Anneliese und Walter Franz auf einem Dampfer Richtung Brasilien. Beide schwelgen in Liebesglück. Kleidungsetikett: Wirtschaftswunder! Doch schlagartig fällt der Vorhang der Freude, denn eine Passagierin an Bord fordert den Tribut der Vergangenheit.
»Viele meiner Werke haben einen Bezug zum Krieg. Dass es so ist, beruht jedoch nicht auf einer freien Entscheidung, die ich getroffen hätte. Die Beschäftigung mit dem Thema Krieg ist mir vielmehr von meinem Schicksal und vom tragischen Schicksal meiner Familie auferlegt worden. Ich betrachte es als meine moralische Pflicht, über den Krieg und über die schrecklichen Dinge zu schreiben, die Menschen im 20. Jahrhundert widerfahren sind.«
Anneliese Franz war Aufseherin im KZ Auschwitz. Die Passagierin ist Marta, eine ehemalige Gefangene, die tot sein müsste. Anneliese kann nichts gegen die Vergangenheit tun. Sie wird eingeholt. Ein Walzer in der Manier von Schostakowitsch ist harmonisch vergrößert und verschoben, der Rhythmus ist der eines Swings. Wie Schmirgelpapier fühlt sich die Komposition an, die die Oberfläche des Walzers aufraut und das Geschehen vorantreibt.
Die Schiffsflanke zieht am Publikum vorbei. Das Innere aber ist die Baracke 1943. Modrige, abgewrackte Holzdielen pflastern die Wände. Die Rückwand ist eine Jalousie, die einen Spalt geöffnet werden kann. Über zwei Lautsprecher werden die Nummern der Insassen ausgerufen. An den Wänden im Inneren sind die Stahltreppen auf exakt denselben Stellen wie an der Außenwand. Anneliese steht im Sechzigerkleid in Auschwitz. Apathisch meldet sie sich zum Dienst. Die Geschichte der Passagierin und Fräulein Franz beginnt. Der Chor ist in labbrige Gefängniskluft gehüllt, die Schädel kahl geschoren. In Frankfurt hat man es geschafft, Auschwitz nicht zu ästhetisieren. Das Hauptaugenmerk liegt auf der minutiösen Abbildung des Geschehens, und auch wenn das Libretto einige Liebesszenen vorgibt, verfällt niemand dem Kitsch.
Während des ganzen Stückes taucht in den Baracken-Szenen Walter Franz aus der Zukunft auf. In einem Nadelstreifenanzug spaziert er achtlos durch die Baracke. Er widmet den Häftlingen der Vergangenheit keinen Blick. Mit einer dampfenden Pfeife im Mund, ein Buch lesend, stolziert er über den Schauplatz. Er ist ein gleichgültiger Flaneur, der durch die Vergangenheit stampft. Marta und Anneliese führen währenddessen einen Zweikampf, den Marta (eigentlich Zofia Posmysz) am Ende überleben wird.
Es ist verrückt, wie authentisch die Sänger spielen und dazu vollkommenen Gesang hören lassen. Der Regisseur Anselm Weber führt alle Darsteller präzise und detailliert, er raubt ihne alle affirmativen Gesten. Nur so ist die Liebesgeschichte zwischen Tadeusz und Marta überhaupt möglich, die in einer solch gewichtigen und diffizilen Geschichte leicht zum Opernkitsch geraten könnte.
Bunte, kleine Lichterketten im Lager. Anneliese Franz und ihr Mann haben sich versöhnt. Die zwei Scheinwerfer oben in der Ecke werden nicht mehr von SS-Soldaten geführt, sondern von zwei Matrosen. Sie beleuchten den Ballsaal im KZ, eigentlich spielt die Geschichte jedoch jetzt an Bord. Es wird getanzt. Was für eine fratzenhafte Musik! Ein Walzer frisst sich rhythmisch auf. Es schmerzt. Darunter mischt sich ein Chanson im Edith-Piaf-Stil, das den Tanz aus den Fugen hebt. Der Kampf zwischen Walzer und Chanson treibt das Ohr in den Wahnsinn, unter der lyrischen Oberfläche lauern als Echo die todbringenden Appelle der Posaunen. Die Passagierin tritt auf und flüstert dem Bühnen-Kapellmeister etwas zu. Die Schiffskapelle beginnt den Lieblingswalzer des ehemaligen KZ-Lagerkommandanten zu jazzen. Die anwesenden Ballgäste reißen sich die Perücken vom Kopf, sind kahlgeschoren. Anneliese kauert in der Ecke. Die Lichterketten gehen aus: Das Lagerkonzert von Tadeusz. Der ultimative Flashback ins Naziregime.
Die Geschichte hat sich wiederholt. Wir im Publikum sind ergriffen, überwältigt, niedergeschmettert und geschockt. Wissen wir nicht alles über die Naziverbrechen, kennen die Zahlen zum Holocaust. Doch das hier ist keine Geschichtsdoku. Den Unterschied macht diese Musik. Sie gibt eine vage Vorstellung darüber, wie unvorstellbar diese Vergangenheit uns bleiben wird. Am Ende sitzt Marta am Ufer und singt im Gedenken an ihre Freunde. In ihr leben die Opfer weiter, sie wird nichts vergessen.