Foto: Victor Sassen
Dieses Wochenende – 27.-29.4. – treffen sich in Witten nun schon zum fünfzigsten Mal Neue-Musik-Interessierte aus aller Welt zu den Wittener Tagen für neue Kammermusik, veranstaltet von der Stadt Witten und dem WDR 3. Hier kommt zur Aufführung, was gegenwärtig im Bereich der Kunstmusik an Musik entsteht. Das allgemeine Interesse an Neuer Musik ist prozentual gesehen nicht der Rede wert, doch einmal jährlich erfährt diese Musik in Witten große Aufmerksamkeit und die Menschen strömen von nah und fern in die Konzerte und spitzen ihre Ohren. Auch ich bin dabei und möchte von zwei Konzerten berichten:
Konzert 1 findet im Saalbau in Witten statt, einem klobigen 60er-Jahre-Bau und das Foyer sowie der Konzertsaal sind gut bevölkert. Das Konzert trägt den Namen Übergang, Spannung und hält drei Uraufführungen bereit. Das Klangforum Wien in unterschiedlicher Besetzung unter der Leitung von Emilio Pomàrico setzt die Kompositionen in Musik um.
Das erste Stück Tension stammt von Vito Zuraj, einem aus Slowenien stammenden Komponisten und Musikinformatiker. Die zehn Musiker beginnen geräuschhaft. Die Streicher knarren, knarzen und schrubben, die Bläser machen Luftgeräusche und vom Schlagwerk erklingen immer wieder metallische Klänge. Meist spielt jedes Instrument oder Instrumentengruppe für sich, doch manchmal treffen sich alle zu einer gemeinsamen Aktion oder einem gemeinsamen Schlag. Es wird ein gemeinsamer Puls gefunden und wieder losgelassen. Die Saiteninstrumente experimentieren mit weiteren Spielarten, wie dass der Cellist und der Kontrabassist mit der linken Hand auf das Griffbrett schlagen und die Harfenistin ihre Saiten ebenfalls perkussiv bearbeitet, zuerst mit der Hand, später dann mit einem weichen, großen Schlegel. Wieder wird ein gemeinsamer Puls gefunden, in Triolen steigern sich die Musiker in Ekstase. Dann löst sich der Puls in Durcheinander auf, ich denke an Großstadtlärm, höre Hupen, dann wird es leiser. Mit Luftgeräuschen verschwindet Tension in der Stille. Für mich besteht die benannte Spannung des Stückes vor allem in den sich wiederstreitenden musikalischen Äußerungen und dem Suchen nach oder sich wehren gegen einen gemeinsamen Puls.
give me some music
Der zweite Beitrag zu Konzert 1 stammt von der aus Polen stammenden Komponistin und Sängerin Agata Zubel und trägt den Namen Cleopatra´s Song. Ihr Lied, das sie selbst vorträgt, ist eine Vertonung Shakespeares Antony and Cleopatra und inspiriert von den Bildern dieser starken, unbeugsamen, eigensinnigen Frau. In die Stille spricht sie, „give me some music“, dann setzen die Musiker mit leichten Tönen ein. Doch gleich darauf wird der Gesang schlagartig dramatisch laut und eindringlich. Dann gehetzt: Zubel schnappt rhythmisch nach Luft, auch die anderen Instrumente spielen aufgeregt. Nachdem sich alle wieder beruhigt haben, haucht Zubel, mehr als dass sie singt, eine schöne, leicht verstörende Melodie, die Piccoloflöte unterstützt sie dabei. Dann gibt es wieder einen dramatischen Aufschrei und schon ist auch wieder das ganze „Orchester“ in Aufregung versetzt. Zubel äußert sich in einem Modus, der etwa zwischen Singen und Sprechen liegt, einem stimmhaften, melodiösen Sprechen, mit dem sie unglaublich viel und schnell Text von sich gibt. Dann ebbt auch dieser Ausbruch wieder ab und die Töne vereinzeln sich. Cleopatra´s Song ist unglaublich dramatisch, die Spannung ist omnipräsent.
Der dritte und letzte Beitrag von Konzert 1 stammt von Yann Robin, einem französischen Komponisten, mit dem Titel Übergang. Sein Stück ist vom tibetanischen Totenbuch Bardo Thödol inspiriert, in dem die „Befreiung durch Hören im Zwischenzustand“ beschrieben wird. Es beginnt mit feinen Tropfen, flirren und kribbeln. Dann kommen Froschgeräusche aus dem Horn und es beginnt unangenehm zu quietschen. Ein gemeinsam gefundener Rhythmus wird schneller und schneller, der Zug rollt an. Er rollt immer schneller und endlich davon und der Rhythmus verschwimmt in undefinierbarem Krach. Die Spannung wird immer wieder im Schweben zwischen Einklang und der Kleinen-Sekunde-Unterschied austariert und ausgehalten. Mit auf die Saiten fallenden Tropfen geht das Stück zu Ende.
Das Konzert 2 mit dem Namen Gestalt und Verzerrung findet in der Aula der Rudolf Steiner Schule statt und wird vom Trio Accanto – Saxophon, Klavier und Schlagwerk – bestritten. Die erste Komposition ist von dem italienischen Pianisten und Komponisten Marco Momi beigesteuert und lautet Vuoi che perduti, was etwa heißt „Willst es verloren“. Außer Klavier, Saxophon und einem vielgestaltigen Schlagwerk gehören Mundharmonika, Trillerpfeife und ein riesiger Schlauch zum Instrumentarium. Der Saxophonist bedient außerdem noch einen Laptop, der elektronische Signale beisteuert. Das Stück beginnt mit Stille und Spannung und allen möglichen kleinen Geräuschen. Dann kommen durchgängige Töne, Signale, melodiehafte Phrasen des Saxophons oder des Klaviers. Schließlich wird es tonal. Was für eine Erlösung, was für ein Genuss – Quinten, immer wieder – wer hätte gedacht, dass man sich einmal so über Quinten freuen würde. Diese Erfahrung kann man wohl nur bei einem Festival für Neue Musik machen. Die kleine Sexte taucht immer wieder auf – fragend. Dann die große Sexte – jetzt ist es geklärt.
Foto: Freya Lintz
Der zweite Beitrag des Konzert 2 stammt von Georg Friedrich Haas, ebenfalls Pianist und Komponist. Es heißt Blumenwiese 1-3 und ist von dem Kinderbuch „das kleine Ich bin Ich“ inspiriert. Das Equipment ist etwas verändert, für den Saxophonisten stehen nun Alt-, Tenor- und Basssaxophon bereit. Das Stück beginnt mit gleichmäßigem, schnellen Geblubber. In Tonleitern geht es immer rauf und runter. Irgendwann tritt das Saxophon mit einzelnen Tönen oder Tonleiter-Abschnitten hervor und das Klavier mit Clustern. Die Stimmung intensiviert sich, aber bleibt unter Kontrolle. Dann wird es wilder und chaotischer, außerirdische Klänge kommen von den Gongs. Der Pianist hämmert nun clusterartig auf die Tasten, dann geht er irgendwann in die Tonalität über. Die anderen Instrumente steigen ein – und wieder aus. Ein Spiel.
Alle Beiträge verlangten nach gespitzten Ohren und erhöhter Aufmerksamkeit, mal unangenehm, mal schmeichelhaft, mal spannend, mal erlösend, dieser Abend hielt viele Überraschungen bereit. Profitieren konnte man davon, wenn man sich auf die Musik ein- und sich mitnehmen ließ.
Beitragsbild: Kornelije Sajler