Es ist Festspielzeit, und ich begebe mich auch wieder auf Wallfahrt, aber vor dem Tristan erst mal zum “Bayreuth der jungen Generation”, und zwar nach Berlin: Young Euro Classic, das mittlerweile legendäre Sommerfestival europäischer Jugendorchester, lockt.
Erschöpft von Hitze und Hauptstadtgewimmel schleppe ich mich ins kühle Konzerthaus, um mir das Symphonieorchester der Tschaikowski Musikakademie aus Kiew anzuhören. Vom Majdan zum Gendarmenmarkt sind sie gereist zu ihrem Konzert am 14. August. Dabei wäre ihre dritte Teilnahme wegen des fehlenden Reisebudgets beinahe gescheitert. Die Ukraine befindet sich im Krieg, und das Geld ist knapp, erst recht für die Kultur. Ein erfolgreiches Crowdfunding im Netz sicherte dann aber doch noch die Anreise der jungen Musikerinnen und Musiker. Ihre Hochschule am zentralen Majdan, dem “Platz der Unabhängigkeit”, wurde während der blutigen Kämpfe im Februar 2014 als Krankenhaus umfunktioniert. Jetzt wird dort wieder musiziert, und welch großes Glück, dieses Orchester auch in Berlin wieder hören zu können.
Eine grandiose Spielfreude brachten sie mit und ein deutliches Statement zur nationalen Selbstständigkeit ihres Landes mit einem rein ukrainischen Programm, neben zwei zeitgenössischen Kompositionen von Lehrern der Musikakademie die selten zu hörende 2. Sinfonie von Tschaikowski. Ihren Beinamen “die Kleinrussische” bzw. “Ukrainische” trägt sie wegen der zahlreichen Anleihen an ukrainische Volkslieder, die Tschaikowski den Bewohnern im Dorf Kamenka im Sommer 1872 abgelauscht hat.
Ein Hornsolo legt schon nach wenigen Tönen den Schalter bei mir um, und eine Traumszene taucht aus den Orchesterklängen auf: Dörflich beschaulich geht es zu, es singt jemand, der Ton ist mal wehmütig, mal voller Pathos. Eine Hochzeitsgesellschaft zieht mit einem tippelnden niedlichen Marschthema heran. Wild wirbeln die Paare über den hölzernen Tanzboden, bis zuerst nur einer, dann alle ein mehrfach wiederholtes Lied anstimmen.
Beim Schlag des Tamtams erwache ich aus meiner hypnotischen Klangreise zu vier slawischen Dorfszenen und sehe nun dem auf der Stuhlkante musizierenden Orchester mit wild fliegenden Geigenbögen zu, das, angefeuert von seinem Dirigenten Igor Palkin, einen gewaltigen mitreißenden Sog auslöst, dem man sich nicht entziehen kann.
Das letzte zitierte ukrainische Volkslied im Finale klingt verblüffend nach dem “Großen Tor von Kiew” von Modest Mussorgskij. Und nach den überwiegend lyrischen Stellen scheinen die wie in Stein gemeißelten Akkordtürme, gestützt von massivem Blech und Beckenschlägen, die megalomane Architektur des Kiewer Majdan noch übertreffen zu wollen. Als ich gerade, nach dem umjubelten Konzert, auf die Freitreppe mit Blick auf Französischen und Deutschen Dom heraustrete, klingt aus dem Saal heraus die vom Orchester intonierte ukrainische Hymne. Laut und eindringlich singen sie, sodass es bis auf den Gendarmenmarkt ins Freie tönt.
20 der Musikerinnen und Musiker des großartigen ukrainischen Jugendorchesters bleiben bis zum Ende des Festivals, um sich gemeinsam mit russischen, armenischen und deutschen Kollegen beim Abschlusskonzert am 23. August zu einem “Friedensorchester” zusammen zu schließen.