Zwischen Himmel und Hölle

Es war eine dystopische Szenerie, als die Musiker am Freitag Abend im Dortmunder Konzerthaus auf den Höhepunkt des Dies Irae von Hector Berlioz’ Requiem zusteuerten. Dies Irae – „Tag des Zorns“. Die etwa 120 Sänger auf der Chorempore donnerten wie Wilde den mittelalterlichen Hymnus. Davor ein Meer aus Geigenbögen. Die Streicher waren an dieser Stelle allerdings nur visuell wahrzunehmen. Sie fallen dem tosenden Fortissimo der Pauken und Blech zum Opfer. Wir sind nicht etwa beim großen Finale des Monumentalwerkes, sondern erst im zweiten von zehn Sätzen. Erste Zuschauer im Rang halten sich die Ohren zu, Dirigent Jukka-Pekka Saraste zuckt kurz mit der rechten Hand und seine Musiker zünden die letzte Stufe. Sekunden später ist es dann ganz still. Zart schwebt ein Dur-Akkord durch den Saal. Der Chor singt fromm. Beinahe wie reumütige Kinder. Als wäre nichts geschehen.

Das größte Werk aller Zeiten

Was Hector Berlioz 1837 im Schilde führte, als er seine Grande messe des morts komponierte, war nichts Geringeres, als das größte je geschriebene Werk zu schaffen. Dafür brauchte er knapp 200 Instrumentalisten, 210 Chorstimmen und vier kleinere Fernorchester. Das ist natürlich nur die Mindestbesetzung. Denn Berlioz macht noch einen besetzungstechnischen Vorschlag:

„Diese Zahlenangaben sind nur relativ; wenn es die Räumlichkeiten gestatten, kann man den Chor verdoppeln oder verdreifachen und im gleichen Verhältnis die Orchesterbesetzung vergrößern.“

Die Räumlichkeiten gestatteten dies in Dortmund nicht. Man spielte mit halber Besetzung. Trotzdem herrschte großes Gedränge auf der Chorempore, einige Sänger vom WDR Rundfunkchor und dem Tschechischen Philharmonischen Chor Brünn, mussten auf den Treppen Platznehmen. Auch die Musiker vom WDR Sinfonieorchester hatten weniger Beinfreiheit als gewohnt.

Die Fernorchester spielten auf vier Gruppen aufgeteilt hoch oben im dritten Rang. Der Komponist hatte sie als quadrophone Klangkörper inszeniert. So konnte er die Trompeten, Posaunen und Tuben seines Jüngsten Gerichtes durch den Raum wandern lassen.

Saraste macht den Schweigefuchs

Auch die sattelfesten Konzertgänger starrten am Freitag mit offenen Mündern auf die Bühne. Das Requiem ist ein Werk, dass es selten in die Spielpläne schafft. Hauptsächlich der riesige Orchesterapparat sorgt dafür, dass dieses Stück so gut wie nicht mehr aufgeführt wird. Hinzu kommt, dass Berlioz mit diesem Klangkörper sehr verschwenderisch umgeht. Es gibt nur wenige Tutti-Stellen. Die dynamische Spanne von kaum hörbar bis zu grobem Donner und allen erdenklichen Facetten und Farben dazwischen ist beispiellos. Himmel und Hölle liegen bei Berlioz nur einen Wimpernschlag voneinander entfernt.

Saraste und sein WDR Sinfonieorchester arbeiteten diese Facetten und Farben in bestechender Art und Weise heraus. Einmal musste der Dirigent sogar den pädagogischen Schweigefuchs bemühen, um sein gewaltiges Orchester vollständig zum verstummen zu bringen.

Der eigentliche Star des Abends waren die beiden Chöre, die zu einem großen Klangkörper verschmolzen. Mal gewaltig, mal ganz zart. Solotenor Andrew Staples, der es alleine mit dem gesamten Chor aufnehmen musste, beherrschte seine Solopassage voll und bekam dafür auch von den restlichen Musikern genug Raum.

Die kolossale Nachtigall

Nach dem der Dichter Heinrich Heine die Grande Messe zum ersten mal gehört hatte, sprach er von einer „kolossalen Nachtigall“, einer “Lerche von Adlergröße”. Jukka-Pekka Saraste nennt das Requiem im Interview „militärisch“ und “ziemlich brutal”. Einen Tag vor der Aufführung in Dortmund spielte er mit seinen Musikern im Kölner Dom (hier gehts zum Stream).

Was dieses Besetzungsmonstrum an klanglicher Vielfalt mit sich bringt, büßt es natürlicherweise an Genauigkeit wieder ein. Selten kam es vor, dass Einsätze wirklich präzise genommen wurden. Trotzdem machte Dirigent Jukka-Pekka Saraste seinen Job besser als sein Vorgänger Francois-Antoine Habeneck bei der Uraufführung vor 180 Jahren im Pariser Invalidendom. Dieser soll kurz vor der entscheidenden Stelle vor dem Tuba mirum, wenn die Fernorchester zum ersten Mal einsetzen und sich das Tempo ändert, seinen Einsatz verpasst haben, weil er damit beschäftigt gewesen sein soll, eine Prise Schnupftabak zu sich zu nehmen. Berlioz, der neben dem Dirigenten saß, habe dies glücklicherweise schnell genug erkannt und durch entsprechende Gesten selbst das neue Tempo vorgegeben.

Auch wenn diese Art von Anekdoten erspart blieben, war der Freitagabend ein unvergesslicher Abend mit Hector Berlioz. Das große Finale blieb dann übrigens aus. Leise und versöhnlich schließt Berlioz seine Grande messe des morts mit dem Agnus Dei. Drei leise Paukenschläge mit pizzicato Streichern, dann eine gefühlte Ewigkeit bis zum bebenden Schlussapplaus.

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