Ein Experiment rund um vier Uraufführungen – gespielt vom Solistenensemble Kaleidoskop. Zur Musik von Chiyoko Szlavnics, Michael von Biel, Dmitri Kourliandski und Sebastian Claren sprengt Choreograph Laurent Chétouane die Konzertsituation. Eine gute Idee?
Im Bartók-Saal in den Donauhallen ist es dunkel. Ein Motorengeräusch ertönt – und in der rechten Hallenwand öffnet sich ein Tor, macht einem LKW Platz, der rückwärts in den Saal fährt. “Ich habe schon immer gewusst, dass Neue Musik ein Laster ist”, witzelt der junge Mann mit dem Pferdeschwanz, der neben mir auf einer gefalteten, braunen Wolldecke auf der riesigen, extra aufgebauten Zuschauertribüne, sitzt. Der Laster fährt weiter zur linken Seite der Halle und bleibt stehen.
Nachdem der spontane Szenen-Applaus verebbt ist, dringt aus dem LKW ein elektronischer, kratzender Sägesound. Dazu mischt sich ein Quietschen und Schaben. Hohe, kreischende Töne und der knarzende Klang, wenn der Bogen sehr fest auf die Saite gedrückt und nur minimal bewegt wird. Michael von Biels Quartett Nr. 2 ist eine Geräuschkomposition, der Lastwagen ein fauchendes Ungetüm. Nach einem weiteren schrillen Kreisch-Glissando hört der Krach abrupt auf.
Es ertönt ein Rumpeln und nach wenigen Sekunden öffnet sich die rechte Fahrertür und eine kleine Frau steigt aus. Sie guckt sich um und geht dann langsam zur Hinterseite des Lasters. Dort betätigt sie einen Hebel und die Heckklappe fährt herunter. Die Musiker stehen eingepackt in dicke Jacken und Mäntel im Innenraum. Sie tragen Mützen oder Schals und ihre Instrumentenkoffer. Langsam steigen sie aus, laufen ein paar Schritte und schauen sich um. Der Laster fährt zurück ins Tageslicht. Ich muss – und soll wohl auch – an Flüchtlinge denken. Die Musiker, zurückgelassen im kalten, blauen Scheinwerferlicht schauen noch immer durch die Gegend. Mit unerträglicher Langsamkeit stellen sie schließlich ihre Koffer ab, packen die Instrumente aus und spannen ihre Bögen. Dann befestigen sie weiße Blätter an Rücken oder Instrumenten. Das sind die Noten.
Kollektive Dynamik
Es ertönen lange Liegetöne, die aneinander reiben. Ein Cluster entsteht. Das Solistenensemble Kaleidoskop besteht aus mehreren Gestrandeten. Es schafft eine Klangfläche, die sich ausbreitet und von der aus der Klang auf eine weitere Plattform fließen kann. Die sich wölbende Klangwolke schmiedet sie zusammen und schafft eine Verbindung und ein Gemeinschaftsgefühl. Der Komponist Chiyoko Szlavniks spricht von einer “kollektiven Dynamik”. Viel mehr passiert in “Memory Spaces (appearances)” nicht. Der Klang genügt. Die Frau im schwarzen Mantel außen rechts setzt ihre Geige ab und hustet in ihre Armbeuge. Stopp – das Stück ist zu Ende.
Nun beginnen sich die Musiker um ihre eigene Achse durch den Raum zu drehen, so lange bis jeder von ihnen auf einem der Stühle sitzt, die in einem Kreis angeordnet sind. Langsam werden Jacken, Mäntel und Schals abgelegt und unter der pinken Jogginghose kommt schwarze Kleidung zum Vorschein. Wie in einem Therapiekreis sitzen sich die Musiker gegenüber, jeder hat seine eigene Macke. Es sind kleine, subtile Bewegungen und Laute. Hier ein Wischen durchs Gesicht, dort ein Stöhnen. An der Wand erscheint ein kurzes Video: Wiese, Vogelgezwitscher, Fahrradklingel, Autolärm. Das Publikum wird gebeten, die Wolldecken zu verlassen, um Platz zu machen.
Die Musik zwingt zur Kommunikation
Jetzt beginnt das Experiment. Nach und nach erheben sich manche aus dem Publikum und laufen langsam nach unten und neben die Stühle und leeren Instrumentenkästen. Einige holen ihr Smartphone heraus und filmen die Musiker, die sich nun auf den gegenüberliegenden Zuschauertreppen positioniert haben. Kourliandskis “Map of non-existent cities: Donaueschingen” zwingt zur Kommunikation. Das Solistenensemble malt sich gegenseitig grüne Farbe ins Gesicht und kommt in einer Reihe nun wieder langsam hinunter. Es formt eine Reihe und schreitet voran, wortlos drängt es das Publikum an den Rand des Raumes. Eine Geigenspielerin berührt mich am Arm und schiebt mich vorwärts, meine Haut fühlt sich wie elektrisiert an. Die schwarze Menschenkette mit den grünen Gesichtern schreitet weiter, immer weiter, bis sich die Zuhörer gezwungen sehen, hinter den Sitzplätzen herumzulaufen und auf der anderen Seite des Saals wieder nach vorne zu kommen. Eine Tauschaktion.
Was genau das Konzertformat “Transit” von Laurent Chétouane sagen will, wird nicht ganz klar. Die Beziehung zwischen Publikum und den Performern steht im Vordergrund. Es geht mehr um Theater und Selbsterfahrung als um die Musik. Trotzdem unterstützt die Musik die Aussage: Die ritualisierte Form des Konzerts wird aufgebrochen und schafft Raum für eine neue, komplexe Art des gemeinsamen Erlebens. Ich selbst laufe danach etwas verwirrt und überwältigt aus dem Bartók-Saal. Die neue, überfordernde Erfahrung finde ich gut und notwendig. Allerdings hat hier die Musik die Inszenierung unterstützt und nicht andersherum. Und vielleicht hätte es schon ausgereicht, wenn die Musiker im Laster geblieben wären.