Eine selbstbewusste Frau steigt die Treppe im Essener Hauptbahnhof herunter. Ihr Kopf ragt über die Menschenmenge hinaus. Unter ihrem langen Mantel blitzt ein rot-weiß-gestreifter Pullover hervor. Auf ihrem Gesicht ein breites Lächeln. Da ist direkt diese Präsenz. Rebekka Wurst macht auch diesen Ort zu ihrer Bühne.
Ihr Krafttier ist das Schwein – das erzählt sie in ihrem Bewerbungsvideo im Internet. Sie nimmt sich gerne selbst aufs Korn, beschreibt sich als verspielt und neugierig. Rebekka Wurst ist Schauspielerin und 25 Jahre alt. Aufgewachsen ist sie im höchsten Norden Deutschlands, an der dänischen Grenze in Ladelund. Nach der Schule hat sie ganz viele Fragezeichen im Kopf und studiert zunächst Philosophie. Sie merkt aber schnell, dass es sie mehr reizt, kreative Fragen zu stellen und Menschen im Einzelnen zu betrachten. Ihre hohe Sensibilität wird besonders im Schauspiel zur großen Stärke, sagt sie. „Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin auf der Bühne mehr ich selbst als abseits, weil ich da alles sein darf, was man sonst ein bisschen zurückhält.“
Ungewissheit nach dem Abschluss
Doch die Schauspielbranche bringt viele Unsicherheiten mit sich: Nach ihrem Abschluss an der Folkwang Universität der Künste arbeitet Rebekka über ein halbes Jahr freiberuflich. Zum Ende des Jahres kommt dann aber eine Krise. „Ich wusste Mitte Dezember 23 noch gar nicht, was 24 ist und dachte, ich bin im nächsten Jahr komplett arbeitslos. Ich hatte große finanzielle, aber auch existenzielle künstlerische Fragen.“
So gibt es lange Phasen der Krise und Selbstzweifel. „Arbeit hat in unserer westlich-kapitalistischen Welt einen sehr hohen Stellenwert“, betont Rebekka. Wenn es dann mal kein Angebot gäbe und man sich nicht durch Arbeit beweisen könnte, würde es schwierig für einen. „Da haben mich Gedanken gequält, dass ich eine Versagerin bin, dass ich Leute enttäusche“, erinnert sich Rebekka. So muss die angehende Schauspielerin lernen, dass auch kleine Dinge wertvoll sind und Hingabe brauchen, „dass man kein Loser ist, nur weil man nicht den dicksten Fisch geangelt hat.“ In solchen Momenten hilft ihr die Unterstützung von Freund:innen und Familie. „Ich habe auch mit Dozierenden telefoniert und gesagt: ‚Ich bin gerade in der Krise, soll ich es lassen?‘ Dann schlagen die die Hände über dem Kopf zusammen und sagen ‚Du bist die letzte Person, die es lassen sollte. Was fällt dir ein?‘ In Situationen, wo man selbst nicht an sich glaubt, tut es gut von anderen zu hören ‚Wir glauben aber sehr an dich‘.“
Bühne als emotionaler Anker
Das Café um die Ecke vom Hauptbahnhof ist geschlossen. So setzen wir uns in eine gemütliche Hotellobby nebenan. Viele bunte Farben und Sitzmöglichkeiten laden zu einem Gespräch ein. Unbewusst rutscht Rebekka auf dem Sessel hin und her. In ihrer Hand hält sie eine Tasse Cappuccino. Durch ihre blonden Locken glänzen ihre Perlenohrringe. Nachdenklich blickt sie nach draußen. Da ist dieser feinfühlige, ehrliche Blick in ihren Augen. Mit ihren Gefühlen ist sie unglaublich offen – das hilft ihr auch auf der Bühne.
Diese Offenheit musste sich Rebekka erst aneignen. Im Studium lernte sie, dass es zum Schauspiel dazugehört, von anderen sehr genau anschaut zu werden – anders als wenn sie allein kreativ arbeitet. „Ich hatte Angst vorm Publikum und musste erst akzeptieren, dass die Zeuge sein dürfen, wenn ich mich öffne“, sagt die Schauspielerin. Am liebsten hätte sie sich auf der Bühne versteckt. Doch im Überwinden dieser Angst sieht sie heute eine kostbare Kraft. „Ich lege sehr gerne mein Herz dem Publikum zu Füßen. Mehr Nicht-Materielles kann ich ihm nicht schenken.“
Im Schauspielberuf sieht Rebekka zwei große Herausforderungen. Einerseits die permanente Kritik und Auseinandersetzung mit sich selbst: „Weil die Sinne so dafür geschärft sind, kommt man nicht umhin, Dinge wahrzunehmen, die man in anderen Berufen leichter verdrängen kann.“ Andererseits die großen emotionalen Extreme, die ihr begegnen. Sie sei in den Projekten sehr leidenschaftlich involviert: „Da ist das Gefühl der totalen Hingabe und danach so eine Leere. Man spielt eine Premiere, wacht dann auf aus einem Fiebertraum und dann kommt wieder der Alltag. Bevor das nächste Projekt kommt, in das man sich stürzen kann, ist ein bisschen Pause. Und dieses Auf und Ab, dieses 150 Prozent gefordert sein und dann wieder null – das sind Extreme, die emotional anstrengend sind.“
Von Casting zu Casting
Für ein Casting beim Theater bereitet Rebekka Wurst zwei bis drei Rollen und ein Lied vor. Um sich eine halbe Stunde vorzustellen, fährt sie manchmal den ganzen Tag durch Deutschland. Alles muss möglichst schnell parat sein: Schnell umziehen, aber nicht zu aufwendig neu kostümieren, fünf Minuten die Rolle spielen, teilweise mit Unterbrechungen, um gemeinsam an den Rollen zu arbeiten. Die Casting-Räume haben oftmals wenig mit richtigen Proberäumen zu tun. So spielt sie zum Beispiel neben Kisten und muss sich darauf konzentrieren, sich nicht von den äußeren Umständen ablenken zu lassen. „Ich glaube, das Wichtigste ist, dass man bei sich bleibt und sich nicht verrückt machen lässt.“
Sie hat das Gefühl, dass sie vor allem bei Castings für Festengagements schnell in eine Schublade gesteckt wird. „Die kriegen meine Bewerbung und meine Bilder und dann komme ich in den Raum und es macht sich so eine Schublade auf von einem zerbrechlichen, zarten Gretchen.“ Das bestätige sie mit ihren Vorsprechrollen und ihrer Person dann gar nicht. „Das sorgt für Verwirrung in einem konservativen Haus“, sagt Rebekka. Auch das war ein Grund, warum es sie zunächst in die Freiberuflichkeit zog. „Man findet seinen Deckel und wenn nicht, ist es auch okay. Ich konnte mir nicht vorstellen, zwei Jahre wahnsinnig unglücklich irgendwelche Sachen zu erfüllen, die mir andauernd übel aufstoßen. Das soll auch Spaß machen“, betont die 25-Jährige.
So sind ihre Zugfahrten quer durch Deutschland nicht von Angst und Bammel geprägt. Im Gegenteil: Sie setzt sich mit dem Haus auseinander. Schaut sich an, wie das Ensemble aufgebaut ist, was auf dem Spielplan steht. „Es ist einfach interessant und spannend, die Leute kennenzulernen und die Situation auf sich wirken zu lassen. Und dann zu zocken!“, schmunzelt die Schauspielerin. Sie möchte sich zeigen, trauen und sich nicht verstellen. Eine Ablehnung lässt sich in dieser Branche so oder so nicht vermeiden. Viele kleine Faktoren beeinflussen eine Entscheidung. „Eine Absage spricht nicht gegen mich, sondern für eine andere Person“, reflektiert Rebekka.
Mit Gelassenheit zum festen Job in Kiel
In die Zukunft plant die junge Schauspielerin nicht besonders: „Ich glaube ab und an muss man überprüfen: Wie geht es mir? Wo stehe ich? Was muss ich eventuell aufgeben, damit sich andere Dinge ergeben können? Ich habe ein paar vage Wünsche für die Zukunft oder Dinge, die ich ausprobieren möchte. Aber jetzt gerade ist da eine Gelassenheit.“ Sie will sich nicht den Druck machen, sich beweisen zu müssen: „Ich glaube, wenn ich weniger Angst habe, dann bekomme ich auch eine größere Freiheit im Spiel.“
Nach ihrem ersten Jahr in der freien Szene hat sie sich nun doch für eine Festanstellung entschieden: Ab Mai beginnt ihr zweijähriger Vertrag am Theater Kiel. Dort spielt sie zunächst die Rolle von Mercutio im Musiktheater „Romeo und Julia“. „Ich habe mich im Winter auf Festengagements beworben, weil ich mit dieser Unsicherheit als Freie nicht klarkam. So hat sich Kiel ergeben.“ Dort habe sie sich sehr wohl und vor allem gesehen gefühlt. „Ich finde es schön, zwei Jahre einen kreativen Hafen zu haben.“ Neuanfänge seien superschön, aber Rebekka erklärt: „Ich verschenke mein Herz schnell an Menschen und dann sind Abschiede immer sehr schmerzhaft. Ich hatte jetzt Lust, eine längere Zeit mit demselben Ensemble zu arbeiten.“
Im Enddefekt geht es Rebekka vor allem darum, sich selbst treu zu bleiben. „Es hilft einem nicht, wenn man versucht etwas zu sein, was man nicht ist und dann den Druck hat, das eine ganz schön lange Zeit aufrechtzuerhalten“, erklärt sie. Es sei wichtig, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen – ob Höhenflug oder Talfahrt. „Ich hatte schon viele düstere und helle Phasen in meinem Leben, aber die lösen sich ab. Die Dinge bleiben nie so beständig, wie es manchmal scheint“, findet Rebekka.
Schauspiel ist ihre Leidenschaft und dafür lohnt es sich, die Herausforderungen der Branche auf sich zu nehmen. „Weil ich das zu 100 Prozent will und so dafür brenne, ist es besonders schmerzhaft, wenn ich das Gefühl habe, ich kann das gerade nicht machen.“ Wenn man ihr das wegnehmen würde, würde es ihr wahnsinnig viel Lebensqualität rauben. „Dann müsste ich mich wirklich fragen: Was will ich vom Leben, wenn nicht spielen?“
Nach dem Gespräch gehen wir gemütlich zurück in Richtung Hauptbahnhof. Für Rebekka geht es wieder nach Köln in ihre WG. Ein Blick auf die abfahrenden Züge, in zwei Minuten kommt der nächste. Schnell verabschieden wir uns, ich bedanke mich für ihre Offenheit, da huscht Rebekka auch schon los. Sie rast die Treppe hoch und verschwindet in den Massen. Zieht weiter zur nächsten Bühne, dieses Mal nach Kiel.
Rebekka ist in ihrer Rolle Mercutio in „Romeo und Julia“ am 25. und 27. Oktober am Theater Kiel zu sehen. Außerdem auch in „Die Laborantin“ am 13., 18. und 26. Oktober.
Fotocredits @Zaucke