Noch ist er ganz im Rausch: Der bekokste Faust kurz nach seiner Verwandlung auf der Kirmes (Fotos: Karl Forster)
Koksende Verführer, ein Grusel-Chor und eine kitschige Hochzeit. Die Premiere von Gounods „Faust“ in Essen geizt nicht mit schrillen Einfällen.
Mephistopheles ist eine coole Socke, soviel steht fest. Mit wehender Mähne fährt er mit dem Boxauto über die Kirmes, die Champagner-Flasche in der Hand. Die Mädels, die er zu Beginn noch erspäht, wird er schon bald darauf als wild kreischendes Rudel um sich führen. Was für ein Gigolo!
Es ist bereits die dritte Premiere, die Philipp Stölzl mit seiner Inszenierung von Gounods “Faust” feiern darf. Zuerst 2008 in Basel, in neuem Gewand 2015 an der Deutschen Oper Berlin und nun noch einmal im Aalto-Theater in Essen. Stölzl ist ein vielfach begabter Kerl. Er arbeitet nicht nur für die Bühne, sondern hat auch bei Werbespots, Musikvideos und Spielfilmen Regie geführt, etwa bei der Buchverfilmung von ‘Der Medicus’. Und wie man es von einem solchen Tausendsassa erwarten darf, geizt seine Inszenierung in Essen keineswegs mit Kreativität. Im Gegenteil, Stölzl überschüttet sein Publikum geradezu mit schrillen Einfällen.
Gounods Oper ist eine antikapitalistisch angehauchte Tragödie, die Goethes hochkomplexe Grundlage hauptsächlich auf Fausts Sehnsucht nach Jugend reduziert. Der alte Wissenschaftler will noch einmal das Feuer der Liebe spüren und ruft in seiner Verzweiflung den Teufel Mephistopheles an. Dieser verwandelt ihn in einen Jüngling und verkuppelt ihn ohne Rücksicht auf Verluste mit der bezaubernden Marguerite. Zu spätromantisch schwelgenden Klängen nimmt das Drama seinen Lauf, in Belcanto-Arien und Massen-Szenen wird Liebe besungen und Verbrechen angeprangert, am Ende steht die arme Marguerite als Kindsmörderin vor Gericht. Die Instrumentation ist dabei so lautmalerisch, dass die Handlung oft auch ohne Text verständlich wäre.
Philipp Stölzl macht aus dieser Vorlage ein modernes Spektakel. Es steckt voller Details, verliert sich aber auch ein wenig in ihnen. Da sind Faust und Mephisto, die auf Koks im Boxauto die Mädels auf der Kirmes abchecken. Der zarte Jüngling Siébel, der in einem dämlichen Kaninchenkostüm über die Bühne hoppelt. Der Chor, der mit Puppenmasken eine gruselige Masse darstellt, die nach Geld und Unterhaltung giert. So viele Assoziationen schießen einem als Zuschauer durch den Kopf, dass man gar nicht weiß, wohin damit.
Die rasanten Bilder- und Szenenwechsel gelingen Stölzl eindrucksvoll. Das Bühnenbild funktioniert wie eine Weihnachts-Pyramide, um einen grauen Turm in der Mitte fahren am laufenden Band Elemente herein, werden bespielt und verschwinden wieder. Das sorgt für Tempo und Varianz, aber auch für eine ziemliche Reizüberflutung. Und sind die Bilder an sich auch von beeindruckender Präzision, bleibt die Entwicklung der Beziehungen und Charaktere doch etwas auf der Strecke. Die Romanze zwischen Faust und Marguerite ist schon wieder vorbei, bevor es richtig gefunkt hat. Zwar fallen sie am Ende des zweiten Aktes übereinander her, aber was hat zu dieser plötzlichen Gefühlsexplosion geführt?
Hinzu kommt, dass Philipp Stölzl die Handlung an einigen Stellen ziemlich drastisch verändert. Die Walpurgis-Nacht-Szene wird komplett gestrichen, das anschließende Festmahl als imaginäre Kitsch-Hochzeit zwischen Faust und Marguerite inszeniert. Dieser Eingriff kann den Kontrast zwar temporär schärfen, nimmt aber der Figur des Faust, der diese Szene eigentlich erlebt, etwas von ihrer teuflischen Verworrenheit, von der Intention Gounods ganz zu schweigen.
Die Essener Philharmoniker spielen unter der Leitung von Sébastien Rouland in durchsichtigem, geschmeidigem Klang, mit entzückenden Farbwechseln im Holz und einem erfrischenden An- und Abschwellen in den Zwischenspielen. Die Kommunikation zwischen Dirigentenpult und Bühnengeschehen ist manchmal etwas schludrig, was im Falle des Chores aber auch an den Masken liegen könnten, die neben der eingeschränkten Sicht leider auch den Klang deutlich dämpfen. Am souveränsten führt Jessica Muirhead als Marguerite, ihre Phrasen haben klare Ziele, die Stimme wechselt flexibel zwischen schriller Dramatik und verzauberndem Pianissimo. Abdellah Lasri singt einen warmherzigen Faust mit leichtem Druck in der Höhe, während Alexander Vinogradows dröhnende Bass-Stimme wunderbar zur Rolle des rücksichtslos agierenden Mephisto passt.
Die Kerker-Szene am Ende des Werks findet in einer Gefängnis-Kulisse statt, die in ihrer Aufmachung mit Betonmauer und Stacheldraht der DDR-Grenze gleicht. Nachdem der Rettungsversuch Mephistos und Fausts scheitert, endet die Oper in Essen mit der Hinrichtung Gretchens per Giftspritze. Noch so ein aufgeladenes Bild.
Im Gedächtnis bleiben nach drei Stunden Oper viele schöne Einzelmomente. Man staunt über die gestalterische Perfektion des Bühnenbildes und das hervorragende Timing. Und man hätte Lust, mal so richtig exzessiv mit Mephisto feiern zu gehen.
Seine ersten Gedanken nach der Premiere hat Jonas Zerweck beim Verlassen des Saals auf die terzwerk-Mailbox gesprochen.