Ein Jubiläumsjahr ist immer ein reizvoller Anlass, um einer Künstlerpersönlichkeit zu gedenken, sei es durch Buchpublikationen, Konzerte, Briefmarken oder Ausstellungen. Auch das Jahr des 170. Todestages von Felix Mendelssohn Bartholdy verzeichnet einige Publikationen zu dem Komponisten. Ein wahres Monument bildet dabei die in diesem Jahr vollendete und im Kasseler Bärenreiter-Verlag erschienene Gesamtausgabe der Briefe Mendelssohns: fast 10.000 Seiten, nahezu 6.000 Briefe, zwölf Bände in Leinen gebunden und eine Entstehungszeit von gut einem Jahrzehnt.
Es handelt sich um die erste Gesamtausgabe der Mendelssohn-Briefe überhaupt und ihre gleichsam fundierte wie liebevolle Aufarbeitung macht die Edition zu einer einzigartigen Quelle für jeden Historiker. So findet sich in jedem Einzelband ein umfangreicher Kommentar-Teil, der teilweise mehrere hundert Seiten umfasst und wertvolle Hintergrundinformationen bietet. Beispielsweise werden Personen, Werke oder Ereignisse, auf die Mendelssohn in seinen Briefen Bezug nimmt, im Kommentar-Teil erläutert. Nicht zuletzt sind die umfangreichen Einführungen zu erwähnen, welche ebenfalls Hintergründe erschließen und das Verständnis fördern.
Dass die Briefe fortlaufend durch alle zwölf Bände durchnummeriert sind, kommt der Nutzerfreundlichkeit ebenso entgegen wie die ausführlichen Register in jedem Band. Ergänzend befindet sich im letzten Band ein Gesamtregister. Darüber hinaus erlaubt die auf jeder Seite angegebene Zeilennummerierung ein sehr präzises Zitieren. Abgerundet wird die Briefausgabe durch eine CD-ROM, welche alle zwölf Bände enthält und damit auch der zunehmenden Digitalisierung in Wissenschaft und Forschung Rechnung trägt. Angesichts dieser vorbildlichen wissenschaftlichen Aufarbeitung dürfte kein Wunsch des Nutzers offen bleiben.
Ein Blick auf die kulturhistorische Bedeutung Mendelssohns
Die Gesamtausgabe, in die rund 500 bislang nicht bekannte Briefe des Komponisten eingeflossen sind, ermöglicht zudem eine Sichtweise auf die kulturhistorische Bedeutung Mendelssohns und seiner Familie, die weit über die Musik hinausreicht. Wenig bekannt ist zum Beispiel, dass Mendelssohn neben seinem musikalischen Œuvre eine Reihe ansehnlicher Aquarelle und Zeichnungen hinterlassen hat. Die Verwurzelung im kulturellen Leben bildet einen weitläufigen Sektor, der auch unter gesellschaftsgeschichtlichen Aspekten von Interesse ist. Denn die Familie Mendelssohn stellt ein repräsentatives Beispiel für das Bildungsbürgertum dar und hat zum Teil die Kultur- und Geistesgeschichte mitgeprägt. Man denke an den Großvater des Komponisten, den Philosophen Moses Mendelssohn (1729–1786), der regen Austausch mit Intellektuellen seiner Zeit pflegte. Die Briefedition erlaubt uns, in das Leben eines Menschen einzutauchen der in dieser Tradition aufgewachsen ist und ihr zeitlebens treu blieb. Bereits im Alter von 13 Jahren korrespondierte er mit führenden Persönlichkeiten, darunter mit seinem Mentor Carl Friedrich Zelter und dem Dichter Johann Wolfgang von Goethe – ein eindrucksvoller Beleg für Mendelssohns frühe intellektuelle Reife.
Seine vielfältige Anteilnahme am kulturellen Leben erschöpft sich aber keineswegs im Briefwechsel mit großen Persönlichkeiten seiner Zeit: Auch zahllose Briefe an die Familie geben tiefe Einblicke in seine Erlebnisse und Kontakte. Beispielhaft soll der Musiksammler und Abbate Fortunato Santini erwähnt werden, den Mendelssohn während seiner Italien-Reise in Rom kennengelernt hat und dessen umfangreiche Sammlung sich heute im Bestand der Diözesanbibliothek Münster befindet. Mendelssohn zeigte sich in seinen Briefen tief beeindruckt von der Persönlichkeit Santinis:
„Der alte Santini ist immer fort die Gefälligkeit selbst; wenn ich Abends in Gesellschaft ein Stück lobe oder nicht kenne, so klopft er den andern Morgen sehr leise an, und bringt mir das Stück in sein blaues Schnupftüchelchen gewickelt; dafür begleite ich ihn dann Abends zu Hause, und wir haben uns sehr lieb.“ (Brief an seine Schwester vom 13.11.1830).
In diesem Zusammenhang erweist sich Mendelssohn auch als aufmerksamer Beobachter seiner Umgebung und ihrer Gepflogenheiten:
„Abends läßt er [Santini] sich aber von Ahlborn oder mir zu Hause bringen; erstlich weil er sich im Dunkeln allein fürchtet, zweitens weil es einen abbate in üble Nachrede bringt, wenn er Abends allein auf der Straße gesehen wird […]“ (Brief an die Familie vom 8./9.11.1830).
Die nun vollständig vorliegende Briefedition bietet der Mendelssohn-Forschung eine fundierte Basis und man darf gespannt sein, welche Impulse sich in den kommenden Jahren daraus entwickeln. Es ist zu wünschen, dass sich möglichst viele Bibliotheken und Forschungseinrichtungen weltweit zum Erwerb dieses epochalen Dokuments entschließen. Schon heute ist klar, dass die Edition der Mendelssohn-Briefe die Forschung auf Jahrzehnte prägen wird. Eine schöne Huldigung zum 170.Todestag des Komponisten.
Fotos:
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