Schwaben sind unfreundlich und geizig, Blondinen dumm und ein Konzertpublikum von klassischer Musik besteht nur aus vergreisten Snobs. Das sind typische Vorurteile. Am schönsten ist es doch, wenn stereotype Vorurteil widerlegt werden. Vor allem dann, wenn man im Vorfeld überhaupt nicht damit rechnet.
Die günstigste Kategorie im ausverkauften Dortmunder Konzerthaus außerhalb der reinen Hörplätze kostet an diesem Abend 56 Euro pro Karte, die teuersten waren im Vorfeld für stolze 145 Euro pro Nase zu haben – keine Ermäßigungen: Das sind eher Mailänder oder Münchner Sphären. Aus eben jenem München kommt er her, der Mann, für den unzählbar viele Fans enorm viel Geld auf den Tisch gelegt haben: Jonas Kaufmann.
Der Tenor hat im letzten September ein Album mit Lieder aus den 20er und 30er Jahren veröffentlicht: damalige Hits aus Operetten und Filmen. Die (Lieblings-)Musik der Eltern der heutigen Oma-Generation.
Vorurteil: Nur grauhaariges oder glatzköpfiges Publikum, das anständig brav applaudieren wird, wird anwesend sein.
Passend zu dieser CD-Aufnahme ist Kaufmann nun auf Deutschlandtournee, Dortmund ist seine zweite Station. Schaut man sich die Vermarktung für Album und Tournee an (Kaufmann adrett angezogen und mit Schlafzimmerblick), so kann man auf den Gedanken kommen, dass viele der anwesenden Damen sich weniger für die Musik als für den Interpreten interessieren. Nimmt man alle Komponenten zusammen, dann kann man annehmen: Der Konzertabend wird solide verlaufen; in einer zu erwartenden Normalität und ohne besondere Vorkommnisse.
Weit gefehlt. „Freunde, das Leben ist schön, so schön“, singt Jonas Kaufmann und schraubt seinen Tenor auf das hohe, zweigestrichene “a”. Die Komposition aus „Giuditta“ von Franz Lehár ist gewagt als Auftrittsstück, aber der Tenor brilliert. Der Saal tobt. Jubelt, pfeift und applaudiert euphorisch. Nach dem ersten Stück.
Kann sich der Abend steigern? Das scheint kaum möglich, aber er kann.
Man hat nicht das Gefühl, dass sich Kaufmann erst warm singen müsste. Bereits im zweiten Lied „Grüß mir mein Wien“ packt er alle Farben und Facetten aus, verkörpert den traurigen Mann im Zwiespalt von Sehnsucht und Einsamkeit. „Du bist die Welt für mich“ ist ein Klassiker, den der Tenor sonst eher als Zugabe gibt. Für das Publikum ist das Konzert an sich schon eine Zugabe – die seligen Gesichter und offenbar beglückten Menschen sprechen eine eindeutige Sprache. Unter frenetischem Applaus (das überwiegend grauhaarige Publikum lärmt fast wie auf einem Rockkonzert) geht die Mannschaft in die Pause. „Schatz, ich bitt‘ dich, komm heut Nacht“, säuselt Kaufmann mit baritonal gefärbtem, verführerischem Ton und setzt einen Schlafzimmerblick auf. Da versteckt sich dann doch ein bisschen Klischee.
Zwischen den Gesangsstücken spielt das Münchner Rundfunkorchester unter Jochen Rieder Ouvertüren, Märsche und Walzer aus den Filmen und Operetten, aus denen auch die Lieder entstammen. Beschwingt und sichtlich mit Freude sind die Musiker am Werk. Für Jonas Kaufmann sind sie ein harmonisches Fundament, das leider an einigen Stellen zu laut ist und den Sänger übertönt. Munter schaukelt sich der Abend von Höhepunkt zu Höhepunkt, das Publikum verfällt in Ekstase, springt förmlich von den Sitzen. Das Vorurteil ist nun endgültig widerlegt, auch wenn die Haarfarbe weitgehend den Erwartungen entspricht.
Es wundert nicht, dass Jonas Kaufmann eine Zugabe gibt. Und auch eine zweite durfte man im Vorfeld dezent erwarten. „Frag nicht, warum ich gehe“ – da ist klar: Das ist das geplante Konzertende nach der zweiten Zugabe. Kaufmann und Rieder bekommen ihren Blumenstrauß, gehen ein ums andere Mal hinaus und kommen wieder herein, um sich feiern zu lassen. Das typische Prozedere. Besonders clevere Konzertbesucher verlassen den Saal, denn dann sind sie die Ersten an der Garderobe und im Parkhaus. Doch Kaufmann lässt sich zu einer weiteren Zugabe hinreißen. Das Standing Ovation-Spiel geht in die dritte Runde. Das Gejohle – das Publikum im überwiegenden Rentenalter kann definitiv mit einer Rockfestival-Stimmung konkurrieren – nimmt kein Ende. Irgendwann beugt sich Kaufmann zum ersten Geiger und flüstert ihm etwas ins Ohr. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer durchs Orchester.
Das Dortmunder Publikum hat es tatsächlich geschafft, eine vierte Zugabe herauszuholen. „Sehr gut“, grölt ein Zuhörer in die Stille hinein. Dass Nummer vier nicht geplant war, ist eindeutig: Es ist die Arie aus „Giuditta“, mit der Kaufmann den Abend eröffnet hatte.