Es ist ein Moment, der den Gohrisch-Besucher:innen im Gedächtnis bleiben soll: die weltbekannte Pianistin Yulianna Avdeeva spielt „Quasi una fantasia“ auf den internationalen Schostakowitsch-Tagen mitten in der Sächsischen Schweiz. Der Komponist des Stücks Krisoff Meyer, als junger Mann befreundet mit Schostakowitsch, sitzt in der ersten Reihe. Und dieser Moment findet ausgerechnet in einer Scheune statt. Von draußen hört man Wasserplätschern auf der linken, Vogelgezwitscher auf der rechten Seite. Yulianna Avdeeva wartet nicht ab, bis die Vögel leiser werden. Sie nutzt die Atmosphäre aus und beginnt.
Die Spannung auskosten, bei mir innerhalb kürzester Zeit alle möglichen Gefühle auslösen – das sind die Stärken der russischen Pianistin. Quasi una fantasia ist von so viel Abwechslung geprägt, dass ich kaum hinterherkomme. Mal so voluminös und klangvoll, dann wieder stehenbleibend, dann ein spielerisches Fließen über die Tonhöhen. In einem Moment verharre und genieße ich. Im nächsten kann ich kaum mithalten und bin überfordert, dann überwältigt. Fühlt es sich so an, wenn man high ist? Wenn Krzysztof Meyers Quasi una fantasia verharrt, dann verharrt Yulianna. Es ist, als würde die Musik genau das mit mir machen, was Yulianna will. Mit dem Klavier manipuliert sie mich zum Fühlen ihrer eigenen Emotionen. Meyers Stück endet begleitet vom Wasserplätschern. Yulianna genießt den Moment und lässt sich Zeit.
Das Programm des Klavierabends wird mit dem Komponisten weitergeführt, der dem Festival seinen Namen gegeben hat. Schostakowitschs Murzilka aus Tänze der Puppen ist eine Anspielung auf die Zeitschrift Murzilka, die Gedichte und Märchen für Kinder druckt. Es ist der nächste bedeutende Moment, denn Yulianna Aveeva gibt die deutsche Erstaufführung von vier Sätzen aus Murzilka. Ein kurzer, spielerischer Beginn eines lyrischen Walzers eröffnet die Erstaufführung. Darauf folgt eine Steigerung, die Yulianna kaum merklich einleitet. Ein Ton wird immer wieder angeschlagen. Ganz unauffällig werden die Repetitionen immer schneller.
Das Adagio lässt mich staunen. Wie kann etwas so einfaches und Kindliches trotzdem in das Konzertprogramm einer weltweit erfolgreichen Pianistin passen? Ich spüre, wie groß die Faszination im Raum ist. Alle hören aufmerksam zu. Selbst die Vögel sind still. Das Allegro zum Schluss beginnt Yulianna nach einer theatralischen Pause. Mit dem tänzerischen Satz will Yulianna alle mitreißen. Lachen im Publikum am Ende der Murzilka, denn es hat geklappt. Das Stück wirkt wie eine Erinnerung: Nimm das Leben nicht so ernst. Vielleicht mal mit Kinderaugen auf die Welt blicken? Nicht aufhören zu träumen.
Draußen grau, Innen bunt
Weinbergs Sonate in h-moll ist zu Beginn so eintönig, dass es nicht in das Programm zu passen scheint. Zum Glück ist sich Yulianna Avdeeva dessen bewusst und sorgt für starke Kontraste im weiteren Verlauf des Stücks. Am Anfang bleibt alles gleich: Weder Rhythmus noch Akkorde noch die Melodie verändern sich. Gerade als ich abschalte, intensiviert die Pianistin ihr Spiel mit der Dynamik und das Stück baut sich langsam auf. Das zweite Allegro erinnert an ein Gewitter und die Hände der Pianistin schlagen auf die Tasten ein wie Blitze auf dem Boden. Die Akustik der Scheune trägt so gut, dass mir die Ohren fast ein bisschen wehtun, während sie die starken und verschwommenen Akkorde spielt. Das Adagio ist ein Blick nach innen. Nicht nur Yulianna Avdeeva, auch ich werde verletzlich. Die nachdrücklichen Arpeggi und ein kaum aushaltbares pianissimo lassen mich die Augen schließen, damit ich noch genauer hinhören und genießen kann. Der Beginn des letzten Allegro ist wie ein langsames Aufwachen aus einem Traum und das Finale beginnt wie eine Achterbahnfahrt. Aber eine langsamere mit schöner Aussicht. Diese langsame Achterbahnfahrt wird zu einem Tanz, der sich aufbaut und in einem Höhepunkt mündet, der mich denken lässt: Alles ist schön. Zum Schluss spielt Yulianna Avdeeva wieder im extremen pianissimo. Weinbergs Sonate hat große Kontraste zu bieten. Es ist kein sonniger Tag. Draußen ist es grau. Drinnen so bunt.
Beethovens Hammerklaviersonate ist ein solider, aber nicht unbedingt notwendiger Abschluss des Klavierabends mit Yulianna Avdeeva. Meyer, Schostakowitsch und Weinberg hätten auch ein rundes Programm ergeben, und zwar alle Stücke unter einem Motto: Zwischen Träumerei und unverblümter Realität.