Zweifache Einsamkeit

Annika Kaschenz (Girl) in "Trouble in Tahiti"

Einsamkeit hat viele Gesichter. Sie kann sich hinter einer scheinbar makellosen Vorgarten-Idylle als schmissige Jazz-Nummer offenbaren. Oder nach einer Katastrophe alle Beteiligten in ihrer eigenen Welt gefangen halten. In Duisburg inszenieren zwei Nachwuchsregisseure die Einsamkeit in »What Next?« und »Trouble in Tahiti«.

Tibor Torell und Philipp Westerbarkei sind die ersten hinter dem Regiepult in der Reihe »Young Directors«. Das Programm der Deutschen Oper am Rhein gibt Nachwuchsregisseuren des Hauses die Gelegenheit, eigene Inszenierungen zu realisieren. Normalerweise arbeiten die beiden als Spielleiter und beschäftigen sich mit den Inszenierungen anderer Regisseure. Für dieses Experiment haben sie sich zwei moderne Einakter außerhalb des Repertoires ausgesucht. An einem Abend werden beide Kammeropern aufgeführt: Elliott Carters »What Next«, auf die Bühne gebracht von Tibor Torell und Leonard Bernsteins «Trouble in Tahiti« inszeniert von Philipp Westerbarkei.

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Im folgenden Abschnitt lernen Sie zunächst die beiden Werke kennen und erhalten einen Überblick, wie sie sich historisch einordnen lassen. Weiter unten können Sie etwas zu den Inszenierungen der beiden Regisseure lesen und ihre Herangehensweise an die Werke sowie ihr Selbstverständnis als Regisseur kennenlernen.

Import / Export

Dampfschiff schwarzweiß
Vielleicht ist die Oper ja mit dem George Washington-Dampfer nach Amerika geschippert... (gemeinfrei)

Was es mit der amerikanischen Oper auf sich hat

»Trouble in Tahiti« und »What Next?« beschäftigen sich mit ähnlichen Themen, kommen mit einem Akt aus und sind Kammeropern amerikanischer Komponisten – zwei Opern vom gleichen Schlag, könnte man meinen. Doch könnten sie unterschiedlicher nicht sein, denn in den Musiktheaterwerken zeigt sich das enorme Spannungsfeld des Musiktheaters in den USA. Anfangs als »Entwicklungshilfeprojekt Europas« bezeichnet, ist die amerikanische Oper im vorigen Jahrhundert flügge geworden. Ein Überblick.
Alles auf einen Dampfer und rüber damit! Der Überseetrip startet im Hafen des kulturreichen Europa zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, die Fracht ist ein dickes Opernpaket mit Noten von Donizetti bis Puccini, einigen Sängerstars und einem erfahrenen Impresario. Reiche Oberschichtler in den USA haben den Bestellschein für die Schiffsladung ausgefüllt. Sie stammen zu einem Großteil aus Europa und wollen auch im Exil ein wenig musikalische Heimat genießen, außerdem wittern sie die Chance, eine neue Nische auf dem amerikanischen Kulturmarkt zu etablieren.
Die Metropolitan Opera, bis heute eines der prestigeträchtigsten Opernhäuser der Welt, entsteht als deutsches Projekt. Oper als Importware!
Doch die amerikanischen Komponisten rebellieren: Sie wollen ihrer eigenen musikalischen Sprache Ausdruck verleihen und etwas Neues erschaffen. Neu heißt eine Rückkehr zu den Wurzeln. Oft integrieren sie »echte« amerikanische Musik in ihre Werke, darunter folkloristische, indianische Klänge, oder Jazz, der nun auf die Theaterbühne drängt. Tadaa! Das Musical ist geboren. Die Maximen der amerikanischen Opernwerkstatt sind Unabhängigkeit von Europa und ein großer Unterhaltungswert.
»Trouble in Tahiti« entspringt genau dieser Phase. Leonard Bernstein möchte sein Publikum amüsieren und hat Angst, zu trockene Werke zu schreiben. Er träumt von einer Melange mehrerer Genres, die sowohl unterhält als auch relevante Themen behandelt. Der Mittelweg gelingt ihm in der Jazzoper »Trouble in Tahiti«, die 1952 uraufgeführt wird. Fünf Jahre später stolziert ihre Nachfolgerin, die glamouröse »West Side Story« auf die Bühne, die Bernstein berühmt machte und der kleinen Jazzoper bis heute die Schau stiehlt.
In den folgenden Jahrzehnten floriert der restliche Opernbetrieb in Nordamerika, die Zahl der opera companies und auch das Publikum wächst an. In den achtziger und neunziger Jahren sprießen Opern wie Pilze aus dem Boden, ein ganz eigener Stil wird offenbar und die amerikanische Avantgarde entsteht.
In dieser Zeit entsteht »What Next?«. Carters Werk, vierzig Jahre nach Bernsteins Jazzoper komponiert, liegt dem Inselzauber so fern wie Tahiti dem kalten Berlin, wo »What Next?« 1999 uraufgeführt wird.
Elliott Carter schreibt das Werk, als er schon über neunzig Jahre alt ist. In seiner späten Schaffensphase verbindet er Stile und Eindrücke aus 104 Jahren Lebenszeit.
Die Unsicherheit regiert in Carters einziger Oper, und anstatt den Titel zu beantworten, wirft der Komponist noch unzählige Fragezeichen mehr in den Raum. Wohin gehen wir? Werden wir jemals ankommen? Verstehen wir uns, wenn wir miteinander sprechen?

Die Absurdität des Inselzaubers

Das Bühnenbild von "What's Next", © Hans-Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein
Das Bühnenbild von "What's Next", © Hans-Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein

Worum es in den den Opern von Bernstein und Carter geht

Wie trist so ein Eheleben sein kann! Dabei sind Sam und Dinah frisch verheiratet, haben einen Sohn und ein glattpoliertes Leben. Er pumpt sein Ego erfolgreich auf der Arbeit und im Sportstudio auf, während sie Erfüllung in der Pflege des Eigenheims finden soll. Stattdessen fristet sie einem Dasein auf Kinosesseln und der Psychiatercouch.
Was ist mit den beiden los? Sie streiten sich schon beim angebrannten Frühstückstoast und reden ständig aneinander vorbei. Zu einer wirklichen Verständigung oder Begegnung kommt es nicht, obwohl es die jungen Eheleute – zumindest zeitweise – versuchen. Eine Ausflucht verheißt der Film »Trouble in Tahiti«, in dessen Inselzauber sich Dinah träumt.
Gut zu wissen:
Zwei Girls und ein Boy schwarwenzeln ständig um Dinah und Sam herum. Die drei Sänger kommentieren das Geschehen und sollen laut Partitur stets lächeln. Ihre klebrig-süßen Songs glorifizieren das amerikanische Vorstadtleben, doch je schlechter es Dinah und Sam geht, desto ironischer klingen sie.
Einmal Festplatte formatieren, bitte! Eine Katastrophe im Niemandsland, die sechs Opfer stolpern durch die Gegend. Rose, Mama, Stella, Zen, Harry or Larry und Kid sind zwar unverletzt, können sich aber an nichts erinnern. Waren sie überhaupt zusammen unterwegs? Was verbindet sie mit den anderen? Spinnt das Hirn sich die echten Erinnerungen oder eine Traumwelt zusammen? Nicht einmal der Name von Harry – or Larry – ist bekannt.
Die Beteiligten sind ausnahmslos Ich-fixiert, Gesprächsfetzen schwirren aneinander vorbei, es findet keine Kommunikation statt und niemand weiß, wie es weitergehen soll.
Gut zu wissen:
 In »What Next?« hat Carter ein vertracktes Kompositionssystem ausgeklügelt. Jede Figur bekommt ein ganz kleines Intervall-Repertoire, ein bestimmtes Tempo und jeweils ein begleitendes Instrument. Wenn die Figuren kurzzeitig übereinstimmen, leihen sie sich Intervalle aus oder ihre »Partner-Instrumente« spielen die gleichen Töne. Wenn sie sich missverstehen, singen sie die Melodien einer anderen Person rückwärts oder falsch herum – und musizieren so ständig aneinander vorbei.

Amerika in Duisburg

Wie Tibor Torell und Philipp Westerbarkei die Opern umsetzen

Die kleine Bühne des Duisburger Opernhauses umspannt ein riesiger Sternenhimmel. Mitten im Nichts ein riesiger Krater, in dessen Ödnis sich ein einsamer Baum verirrt hat. Die absurde Welt von »What Next?« entfaltet sich vor den Augen der Zuschauer.
Regisseur Tibor Torell katapultiert die Figuren der Oper in eine Galaxie, wo die innere Entfremdung nach außen gestülpt wird:
Mit seinem Szenario führt Torell die fehlgeleitete Kommunikation ad absurdum. Schon nach wenigen Minuten ergreift den Zuschauer ein Sog, der ihn mittels Musik und Bühnenbild in eine sinnentleerte Umgebung zieht. Mal amüsiert, mal fassungslos wird man Zeuge dieser grandiosen Missverständnisse, die langsam auch das eigene Gehirn zersetzen.
Zeit- und richtungslos wanken die Personen über die Bühne, sie entwickeln sich im Laufe des Werkes von Greisen zu Babies, lallen erfundene Szenarien vor sich hin und haben ihre Normen und Werte vergessen.
Verstrahlt taumelt der Zuschauer aus »What Next?« und in die Welt von »Trouble in Tahiti« hinein. Willkommen Zuhause! Hier herrscht eine ganz andere Tristesse: schlichte Küchenzeilen, kleinbürgerliches Idyll. Philipp Westerbarkei verfrachtet »Trouble in Tahiti« in das Flair der 50er Jahre, die drei Räume eines eingeschossigen Hauses entpuppen sich erst auf den zweiten Blick als drei identische Küchen.
Wenn Ehemann Sam zur Arbeit geht, wechselt er lediglich von der mittleren in die rechte Küche, alles bleibt beim Alten. Dinah träumt von einem verwunschenen Garten, ein paar klägliche Lianen ranken sich über dem Küchentisch. Man schaut auf dieses staubfreie Leben wie auf einer Filmleinwand, die Abgründigkeit der Banalität versteckt sich hinter dem nächsten Küchenschrank.
So unterschiedlich die beiden Inszenierungen sind, stellen sie doch beide die innere Verödung der Figuren in den Mittelpunkt. Torell und Westerbarkei nehmen ihre Zuschauer mit in die Orientierungslosigkeit der Figuren, die nach jedem Fluchtversuch wieder am Ausgangspunkt landen.

Die Regie-Bredouille

Man kann es sich kaum vorstellen! Lastet heutzutage die größte Verantwortung auf dem Opern-Regisseur, hat man für lange Zeit gar nicht die Notwendigkeit einer Inszenierung gesehen. Die Sänger traten an die Rampe, trällerten ihre Arien vor einer opulenten Kulisse und das ganze Schauspiel beschränkte sich auf wenige pathetische Gesten. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts kam Gustav Mahler an der Wiener Staatsoper auf die Idee, einen Regisseur einzustellen. Nur schade, dass in den folgenden Jahren immer weniger neue Opern auf die Bühne kamen. An die Stelle trat eine Auswahl an alten beliebten Stücken, die offenbar ein treues Publikum immer wieder in die Oper brachte. Die Opernhäuser entwickelten einen Repertoire-Trott, der allerdings bei einer konservativen Gesellschaftsschicht Anklang fand.
Eine wirkliche Innovation kam erst vierzig Jahre später von der Regie – die alten Werke wurden neu interpretiert, abstrahiert, aktualisiert. Der Nihilismus auf der Bühne wurde begraben. Und auch wenn es dem konventionellen Opernpublikum nicht schmeckt, wird Regietheater noch bis heute serviert. Dabei haben sich neue Werke kaum bewährt, das Repertoire ist noch kleiner geworden. Der Regisseur ist die künstlerische Instanz, an der die meisten Erwartungen hängen.

Ein guter Schachzug von den »Young Directors« bei dieser festgefahrenen Situation selten gespielte, moderne Opern auszuwählen.

Verzaubern vs. Provozieren

»Verzaubern« ist sicherlich ein Wort, welches selten aus dem Mund eines Opernregisseurs herauskommt. Höchstens Zefirelli hat vielleicht schon mal davon Gebrauch gemacht. Denn eigentlich hat sich das Regietheater Ende der sechziger Jahre von bequemen Inszenierungen verabschiedet, bei welchen die Opernbesucher langsam in ihren Sitzen versinken und glückselig genießen.
Bei »Trouble in Tahiti« werden sie aber eher vergnügt zu jazziger Musik mit den Füßen wippen. Die Emotionen, die Westerbarkei in der Oper schätzt, sind auch bei dem Einakter zentral.

Im Gegensatz zu »Trouble in Tahiti« kann man bei »What Next?« von Unterhaltung nur wenig spüren. Die Handlung ist ähnlich ereignisreich wie Becketts »Warten auf Godot«, die Musik hochkomplex und aufreibend. Zum Glück hat Tibor Torell keine Scheu, den Opernbesucher zu reizen.

Torell liebäugelt noch mit den Anfängen des Regietheaters. Es sei zwar heute schwieriger, weil man schon so vieles gesehen hätte auf der Opernbühne. Als Regisseur müsse man aber am Stück dranbleiben, eine Inszenierung auf die Beine stellen, welche die Schwächen und Stärken der Menschen heute bewegt.
»Ich sehe nicht, dass ich ein Weltkulturerbe als rohes Ei in meinen Händen halte, weil das nicht der Fall ist. Jedes Handwerk hat sich über Jahrhunderte entwickelt, und sollte oder muss in jedem Fall erhalten bleiben. Das ist eben auch eine Aufgabe unserer Gesellschaft.«
Damit hat sich der Philipp Westerbarkei aus der Regietheater-Debatte herausgezogen. Er sieht sich in der Verantwortlichkeit gegenüber des Stücks, der Solisten und des Publikums – aber nicht gegenüber der Oper als Gattung.
Gelungen ist: zwei spannende Opern auszuwählen, vielleicht die einmalige Chance eine Aufführung zu erleben. Und eine Gelegenheit, sich mit dem schlimmsten Gefühl zu beschäftigen, das die menschliche Existenz mit sich bringt – die Einsamkeit

– Ein Beitrag von Marie König und Teodora Bala-Ciolanescu

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