Schwere, Erhabenheit und Distanz – diese Eigenschaften strahlt der Raum gnadenlos aus. Die Wände sind mit einer dunkelglatten Holzvertäfelung eingekleidet, zwei Kronleuchter hängen von der Decke und ein üppiger, wenn auch schon etwas verblichener Wandteppich, hängt hinter den Künstlern auf der Bühne. Ein weiterer, überdimensionaler Teppich befindet sich auf dem Boden. Angeblich, weil Frau Oetker einmal im Konzert die Füße abfroren.
Hier, im kleinen Saal der Bielefelder Rudolf-Oetker-Halle, geben die Bielefelder Philharmoniker ihr drittes Kammerkonzert. Auf dem Programm stehen französische Komponisten auf der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert.
Eine zierliche Frau in frühlingshaftem Abendkleid betritt die Bühne. Ein krasser Gegensatz zum wuchtigen Saal. Sie lächelt, dann singt sie. Und je länger sie singt, desto mehr scheint auch der Raum zu Funkeln und zu Strahlen. Kein aufdringliches Blitzen eines Brillanten (wie sie unübersehbar an den Fingern einiger Konzertbesucherinnen hängen), sondern ein sanftes Leuchten mit unglaublicher Intensität. Auf einmal meint man den silbrigen Glanz von Nienke Ottens schlankem Sopran in den Kronleuchtern wiederzuentdecken. Träge fließen die Wörter von ihren Lippen: Ein schmachtendes heißes Begehren, ein süßes müdes Gewähren…, der Text in C‘est l‘extase aus den Ariettes oublieés von Claude Debussy quillt nur so über vor Leidenschaft und Gefühl. Die Musik folgt dem Wort, Debussy verzichtet auf Textwiederholungen und verwendet in Spleen eine tonlose Deklamation, lediglich begleitet von langgezogenenen Akkorden im Klavier. Jedes Mal, wenn das Schimmern des Textes etwas heller oder matter wird, passt Nienke Otten ihren Klang an. Mal schwebt ihre Stimme über dem Klavier, mal schmiegt sie sich Tönen an oder sinkt zusammen mit Läufen abwärts. Gesang und Klavier erklingen in gegenseitigem Respekt und Achtung voreinander. Sie sind zusammen, bilden eine Einheit, verströmen gleichschwingende Harmonie. Dabei verzichten die Musiker auf große Gesten. Sie schwelgen nicht in deutschen romantischen Bögen, denn das braucht es nicht. Schlicht, beinahe bescheiden, geben sie der Musik selbst Raum.
Sowie Nienke Ottens glockenheller Sopran ein Leuchten verströmt und das Unbehagen des Saals vertreibt, scheint Hasti Molavians warmer Mezzosopran in seiner Farbgebung mit der dunklen Wandvertäfelung zu verschmelzen, sodass die ehemals unheimliche Düsternis plötzlich zur wohligen Höhle wird – wie unter einer Kinderdecke. Ihre Stimme unterstützt all das Kräftige des Nazibaus und wölbt sich wie eine Glocke über die Zuhörer. Eindringlich, jedoch ohne jede Härte, singt sie in Debussys Liedzyklus Chansons de Bilitis über Pans Flöte und den Tod der Nymphen. Dagegen beginnt Aoua aus den Chansons Madécasses von Maurice Ravel unmittelbar mit einem Warnschrei. Das Lied handelt von Sklaverei und Blutvergießen und ist eine wütende Anklage gegen den weißen Mann. Die Spannung steigert sich kontinuierlich bis hin zu einem dissonanten Fortissimo-Akkord an der Spitze des üblichen Tonumfangs für einen Mezzosopran. Nach diesem Albtraum erklingt das darauffolgende Il est doux wie ein Schlaflied. Hasti Molavian erschafft zusammen mit Flöte, Klavier und Cello eine schwüle Welt voll pastoraler Faulheit. In Évariste de Parnys Gedicht liegt das lyrische Ich müde in der kühlen Abendbrise unter einem Baum und sieht einer Gruppe von tanzenden Frauen zu.
Es verwundert nicht, dass die junge Iranerin vergangene Spielzeit bei der Kritikerumfrage der Welt am Sonntag als „Beste Sängerin“ unter anderem für ihre Darstellung als Charlotte in Charlotte Salomon von Marc-André Dalbavie genannt wurde. Das Werk über eine 1943 in Auschwitz ermordete Malerin wurde 2014 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. Im Frühjahr 2017 gefiel dem Publikum die Inszenierung von Mizgem Bilmen am Theater Bielefeld so sehr, dass den geplanten sechs Vorstellungen noch eine siebte folgte.
Yoonha Choi lässt ihr Pizzicato am Cello knallen
Die Programmatik des Abends ist ein Experiment, eine Symbiose aus Liederabend und Kammerkonzert. Das ist neu bei den Bielefelder Philharmonikern. Liederzyklen von Debussy, Fauré, Ravel und Poulenc stehen neben zwei Préludes und der Sonate in d-Moll für Violoncello und Klavier von Debussy.
Auf das Titelblatt der Cellosonate schreibt er: Musicien français. Eine Ablehnung gegenüber der spätromantischen Musiktradition Deutschlands, obwohl der junge Debussy durchaus ein Wagner-Fan war. Debussy vermeidet die viersätzige Form der klassisch deutschen Kammermusik und lässt seine Sonate mit einem Prolog beginnen, was an die französische Barockoper erinnert. Debussys eigene Klangästhetik, die der Komponist selbst sogar correspondence mystérieuse de la nature et de l‘imagination“ – „geheimnisvolle Korrespondenz zwischen Natur und Einbildungskraft nennt, schimmert besonders im Prologue, wo das Klavier die langen Bögen des Cellos nur mit Akkorden unterfüttert. Im zweiten Satz dagegen malträtiert Yoonha Choi das Cello, setzt ruppige Akzente, lässt ihr Pizzicato knallen, bis schließlich im Finale ein Mittelding zwischen beiden Seiten erklingt.
Diese Interpretation verdeutlicht die Kämpfe zwischen der französischen Leichtigkeit und der deutschen Wuchtigkeit, die sich in diesem Saal besonders gut nachvollziehen lassen. Darüber hinaus zeigen sie aber auch, dass es eine Frage des Blickwinkels ist, ob das Glitzern oder die Schwere auffällt. Durch die Brille der französischen Eleganz gibt der düstere Saal plötzlich auch seine behaglichen Stellen preis: Die Holzwände verströmen eine Wohnzimmer-Atmosphäre und der Teppich wirkt beinahe gemütlich.