Wenn in Sekunden geschieht, wofür es einst Jahrhunderte brauchte. Das Musiktheater Cosmopolis nach dem gleichnamigen Roman von Don DeLillo holt Utopien ins Jetzt und verhandelt große Fragen und Probleme unserer Zeit. Eine Premierenkritik.
Rums. Ein Zucken geht durch den Saal. Grelles Scheinwerferlicht. Ein dumpfer Schlag erschüttert den Boden. Hohes, elektronisches Fiepen. Es ist wie ein Wiederbelebungsversuch. Das Publikum wird akustisch reanimiert. Herausgerissen aus dem Taubheitsgefühl, das eine einfache Melodie vor Vorstellungsbeginn ausgelöst hatte. Viertel- und Achtelnoten. Kühl und ohne Emotion. Eric Satie hat sie einst in einem Klavierstück namens Vexations notiert. Einem Stück, das je nach Interpretation zwölf bis achtzehn Stunden dauert. Es ist ein Loop, eine Dauerschleife. Komponist Eric Sleichim lässt das Zitat vor Beginn der Vorstellung von Cosmopolis spielen. In gefühlter Zeitlupe.
Doch jetzt starren die Blicke elektrisiert zur Bühne. Ist es denn eine Bühne? In Halle 4 der Jahrhunderthalle Bochum sehen die Zuschauer auf eine Fläche grauer Kunststoffplatten, die auf dem Betonboden des Industriegebäudes verlegt wurden. Auf der rechten Seite öffnet sich ein breiter Gang. Vier Gestalten treten aus der Dunkelheit in das weiße Licht. Eine Frau, drei Männer.
Spielplatz
Eine gigantische Schaukel, ein Sandkasten, wippende Plastikpferde. Auf den grauen Bodenplatten erhebt sich ein überdimensionierter Spielplatz. Kein Grün, keine Wiese. Vollkommene Sterilität. Neben den riesenhaften Spielgeräten wirken die vier Schauspieler wie Kinder. „Ich werde ihn töten.“ Der Junge im Sandkasten schleudert Sand über den Boden. Wie befremdlich und grotesk, wenn ältere Menschen wie Kinder quängeln und dabei Morddrohungen aussprechen.
Der Protagonist des Geschehens ist Eric Packer, ein New Yorker Währungsspekulant und Multimilliardär. In der Romanvorlage des amerikanischen Schriftstellers Don DeLillo spielen sich alle Geschehnisse im Inneren einer weißen Stretch-Limousine ab. Von dort aus erledigt Packer Arbeit und Privatleben. Er empfängt Währungs- und Finanzexperten, den Sicherheitschef, seinen persönlichen Arzt, seine Kunsthändlerin, seine Frau. Die durchweg klischeehaft überzeichneten Charaktere werden im Stück von nur zwei Schauspielern übernommen. Unendlicher Reichtum und Unsterblichkeit – Packers Visionen sind in den Augen des Regisseurs Johan Simons eigentlich nur in der Vorstellungskraft von Kindern real. Er verlegt den Ort des Geschehens auf einen Raum größtmöglicher kindlicher Freiheit: Einen Spielplatz.
Der ¥en
Die Geschichte dreht sich um die Umsetzung der Visionen Packers. An einem Tag in New York spekuliert er mit seinem gesamten Vermögen auf den fallenden Kurs des japanischen Yen. Aber der Yen denkt gar nicht daran, den Berechnungen des Milliardärs zu folgen. Während der Kurs steigt und steigt, macht sich Packer auf den Weg quer durch die Stadt, in der Proteste gegen die Herrschaft des Kapitalismus wüten.
Auf einem Klettergerüst vollzieht ein electro boy sein Werk. Eric Sleichim arbeitet in seiner Komposition den Gegensatz zwischen der virtuellen und der greifbaren Welt heraus. Das Saxophonquartett BL!NDMAN dreht seine Runden durch die Halle. Verwoben in Sleichims Musik sind immer wieder Zitate von Komponisten wie Bach, Mozart oder Edgard Varèse. Ein fünfter Musiker generiert auf elektronischen Instrumenten alle anderen Geräusche und Klänge. Hochfrequentes Surren und Fiepen, das regelrecht in den Ohren schmerzt, Verkehrslärm, dann computerspielartige Melodien. Beinahe allmächtig thront er über dem Geschehen, und vermag es akustisch zu beeinflussen und zu gestalten. Technologie ist allgegenwärtig in der Wirklichkeit der Figuren.
„Wir sind die letzte Generation, die an das Individuum glaubt“
Gott gehört die Ewigkeit. Doch in Eric Packers Welt will der Mensch die Herrschaft über die Zeit um jeden Preis an sich reißen. Die Zeit wird geteilt. In immer kleinere Einheiten. Millisekunden, Mikrosekunden, Nanosekunden. Zeit ist Geld. Wer zuerst kommt, verdient am meisten. Die Zeit rast. Die Zukunft rückt so nahe, dass sie die Gegenwart aufzusaugen droht. Packer träumt davon, ein körperloses Wesen zu werden, unsterblich und eins mit dem nicht abreißenden Informationsstrom. Die komplexen Gedanken und Ideen des Stücks beginnen zu deffundieren.
Was bedeutet es also, wenn die Zukunft die Gegenwart vernichtet? Cosmopolis zeigt, wie schnell Zukunftsvisionen an die Realität heranrücken, wenn sich in kurzer Zeit immer mehr Dinge abspielen. Packer löst sich sukzessive von seinem physischen Körper. Seine Sinnesempfindungen und Gefühle verkümmern, es bleibt eine Taubheit und Leere, die er durch anhaltende Fantasien von Sex und Gewalt zu bekämpfen versucht. Schließlich sieht er in der physischen Gewalt seine letzte Hoffnung. Er erschießt seinen Sicherheitschef und jagt sich selbst eine Kugel durch die Hand. Doch der Schmerz wirkt nur kurz. Als Packer auf seinen ehemaligen Angestellten Benno Levin trifft, der ihn aus abgrundtiefem Hass ermorden will, hat die Zukunft die Gegenwart eingeholt. Die Zeit läuft rückwärts. Packer sieht seinen eigenen Tod auf einem Bildschirm, bevor ein Schuss gefallen ist. Er fühlt nichts mehr und kann nicht mehr sterben.
„Die Zerstörung ist das oberste Erkennungsmerkmal kapitalistischen Denkens.”
Erlösung als höchste Utopie. In dem Gedanken, eins mit Technologie und Datenströmen zu sein, erfasst Eric Packer ein euphorisches Gefühl von Freiheit. In diesem Streben erinnert er an den Helden einer Wagner-Oper. Nur durch Zerstörung des Alten kann etwas Neues entstehen. Nach und nach verfestigt sich der Eindruck, dass es vielleicht ganz im Sinne Packers war, sein Vermögen zu verlieren und so das ganze Finanzsystem zu gefährden.
„Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass Menschen wie Eric Packer nicht nur Antipathie, sondern auch Bewunderung bei uns auslösen. Und zwar, weil er nicht nur unbarmherzig, sondern auch – wie das Spiel der Kinder – unendlich intelligent ist. Ihn scheinen die Dilemmata nicht zu berühren, die das Leben ‚normaler‘ Menschen beeinträchtigen.“ (Johan Simons)
Die Szenerie in Cosmopolis hat etwas Klinisches. Die Erkenntnis, dass diese Dystopie näher an der Realität sein könnte, als uns lieb ist, löst Bestürzung aus. Betroffen ist man jedoch vornehmlich auf geistiger Ebene. Das bizarre Auftreten der Figuren verhindert – bei hervorragender schauspielerischer Leistung – jedes Mitgefühl. Kindliches Verhalten und Bühnenbild verstärken diesen Effekt. Es ist bemerkenswert, wie sehr Cosmopolis den Zuschauer allein mental packt und mitnimmt.
Fragen um Fragen werden aufgeworfen, nur wenige beantwortet. Die Themendichte des Stücks ist übermannend und beeindruckend zugleich. Das Spiel mit Zeit, Geld und Menschenleben steigert sich bis zum Äußersten. Dass die Uhr am Ende rückwärts läuft, macht da leider nur wenig Sinn und schwächt den bis dahin starken Bezug zur Realität. Aus der Fülle an Gedanken und Worten bleibt gleichwohl ein wertvoller Impuls: Über die Welt nachzudenken, die man als Mensch mitgestaltet.