Pflanzenmenschen, ein syrischer Kirchenchor und Visionen einer friedvollen Welt. Im Konzert Beethovens Träume wurden am Sonntag Grenzen überwunden. Unter der Leitung von Sibylle Wagner spielte ein Ensemble junger und erfahrener Musiker in der Aula der Universität Bonn. Ida Hermes hat vorbeigeschaut.
Eine Idee. Das ist der Anfang. Sie entwickelt sich, nimmt Gestalt an, verändert ihre Form. Wie eine Ranke windet sie sich empor. Der Rest ist Gärtnerarbeit. Denn ohne Wasser, Licht und Pflege geht jede Pflanze ein. Die Dirigentin Sibylle Wagner kümmert sich um ihre Ideen. Und erntet die schönsten Blüten.
In der Kammeroper Schloss Rheinsberg hat alles begonnen. Dort lernte Sibylle Daria, Evgeniya, Ilya und Sebastian kennen, Preisträger des Internationalen Gesangswettbewerbs, der jedes Jahr junge Talente aus aller Welt anzieht. Als Preise werden Opernpartien für die Aufführungen des Internationalen Festivals junger Opernsänger vergeben. Im Sommer 2015 stand Verdis La Traviata auf dem Programm, mit Sibylle am Dirigenten-Pult. Die jungen Stimmen begeisterten die Bonnerin sofort. So sehr, dass sie beschloss, sie auf ihrem Weg zur ersten Festanstellung zu begleiten und zu fördern.
Üben, üben, üben
Hochgewölbte Blätterkronen, Baldachine von Smaragd. Daria Rositzkaja umfasst ihren Nacken und runzelt die Stirn. Richard Wagner hat es echt in sich. In dem holzvertäfelten, großen Saal der Uni Bonn verschwinden die Konsonanten schneller, als man sie aussprechen kann. „Orchester bitte die Vorschläge leicht nehmen, nicht säbeln. Sebastian, wie ist die Balance?“, ruft Sibylle durch den Saal. Der Boden knarzt, als Sebastian Kunz zur Bühne eilt. „Das Orchester ist zu laut, man versteht den Text nicht.“ Umbau. Orchester weiter nach hinten. Die Sängerin bekommt ein Podest. Nochmal von Vorne, aber zügig jetzt. Gleich kommt der Chor.
Ein Jahr ist vergangen, seit Sibylle Wagner ihr eigenes Ensemble gegründet hat. Unter dem Titel Internationale Musiktheater-Akademie Bonn hat sie im letzten Sommer die jungen SängerInnen aus Rheinsberg und ein Orchester von Musikstudierenden zusammengetrommelt. Rossinis La scala di seta stand auf dem Programm. Ein voller Erfolg.
Aus einem Konzert ist nun eine Projektreihe geworden: die Bonner Visionen. Bis zum großen Beethoven-Jubiläum 2020 rücken Konzerte den berühmtesten Sohn der Stadt zweimal jährlich in das Bewusstsein der Bonner. Dafür geht Sibylle im Archiv des Beethoven-Hauses Bonn auf Entdeckungstour – und fördert vergessene Werke zutage. Zur Finanzierung hat sie den Verein Donatori Musici gegründet. Spendenquittungen ausstellen zu können, verändert viel.
Nacken dehnen. Der Chor hat sich auf der Bühne versammelt, Köpfe werden in alle Richtungen gedreht. Vorne steht Tenor Mark Rosenthal von der Oper Bonn und leitet das Einsingen. „Du kannst auch den Flügel benutzen“, ruft Sibylle ihm zu. „Ist das Ding denn einigermaßen gestimmt?“ Er spielt drei Akkorde, verzieht das Gesicht und läuft quer über die Bühne. Gottseidank gibt es ja noch einen Flügel. „Hüüüüeeeeaaaaa.“, singt er vor.
Der Chor sei eine ganz besondere Mischung von SängerInnen, erzählt Sibylle. „Unter anderem sind da einige Freunde von mir, alles erfahrene Chorleute oder sogar Opernsänger. Auch Evgeniya, Ilya und Sebastian sind dabei.“ An Weihnachten hat sie bei einem Konzert in Essen dann einen Chor junger Flüchtlinge kennengelernt. Die christlichen Jugendlichen kommen aus Syrien und haben den Chor Mutter Gottes vor zwei Jahren gegründet. „Sie möchten den byzantinischen Kirchengesang aus ihrer Heimat weiterleben lassen, aber auch neue Musik kennenlernen.“, erklärt sie und ergänzt: „So viel Talent auf einem Haufen! Die sind mit so viel Freude dabei und singen keinen schiefen Ton.“ Für die Zeit der Probentage haben Bonner Musikfreunde die MusikerInnen bei sich aufgenommen.
Alle Menschen werden Brüder
Beethovens Träume heißt das Konzert, für das Sibylle und ihre Musiker diesen Sommer geprobt haben. Nächstenliebe, Frieden, Völkerverständigung, Gleichheit und Emanzipation. Träume, die Beethovens gesamtes Schaffen durchziehen. In seiner neunten Sinfonie sind sie durch Schillers Ode an die Freude auch textlich verewigt. Das zentrale Werk des Abends ist heute die sogenannte „Kleine Neunte“, die Chorfantasie op. 80. Die poetische Vorlage stammt von Christoph Kuffner – doch die Melodie klingt allzu bekannt.
Daria betritt die Bühne. Über ihrem smaragdgrünen Abendkleid schimmern ihre langen, braunen Haare rötlich. Sag, welch wunderbare Träume halten meinen Sinn umfangen. Das dunkle Timbre der Mezzosopranistin passt wunderbar zu den fünf schmerzerfüllten Wesendonck Liedern. „Der Traum von Nächstenliebe ist der zentralste in diesem Projekt. Und die Keimzelle von Nächstenliebe ist zunächst einmal die Liebe zwischen zwei Menschen. Deshalb wird Daria zu Beginn des Konzerts die Wesendonck Lieder von Richard Wagner singen.“, sagt Sibylle. Die Dichterin Mathilde Wesendonck liegt auf dem Alten Friedhof in Bonn begraben. Ihre Verse sind die einzigen aus fremder Hand, die Richard Wagner je vertont hat.
Fatwa
Stille. Ein zartes Summen erhebt sich. Der Chor hat sich hinter dem Publikum auf einem Rang versammelt und hält leise Quinten. Plötzlich wird es unruhig im Konzertsaal. Ein junger Mann mit schwarzen Haaren, schwarzer Brille und ausladendem Schnurrbart tritt hervor. Es ist Shahin Najafi, ein iranischer Rocksänger und Poet. Er ist der Überraschungsgast des Abends. Im Iran ist der Musiker vogelfrei. 2012 hat man eine Todes-Fatwa über ihn ausgesprochen. Shahin darf nicht nur, er soll getötet werden. Seitdem lebt er im Asyl und kritisiert die gesellschaftlichen und politischen Umstände in seiner Heimat von Deutschland aus. Im Konzert improvisiert er eine klagende Melodie. Er schüttelt den ganzen Körper, erzeugt ein flimmerndes Vibrato. Auf Aramäisch, der Sprache Jesu Christi, erzählt er seine Geschichte von Nächstenliebe.
Auf einer Leinwand über dem Orchester sind merkwürdige Wesen zu sehen. Darunter ein grünes Gesicht, das lächelnd zur linken Seite blickt. Ist es Pflanze oder Mensch? An Hals und Kopfhaut wachsen Blätter. Eine rote Blume rankt gleich einer Zunge hervor und verzweigt sich zu üppigen Knospen. Die Bilder des Bonner Künstlers Ren Rong zeigen die Verbindung von Mensch und Natur. Nächstenliebe über Artengrenzen hinaus. Sibylle liebt diese Bilder.
Wenn der Töne Zauber walten
und des Wortes Weihe spricht,
muss sich Herrliches gestalten,
Nacht und Stürme werden Licht.
Herkunft spielt keine Rolle. Religion spielt keine Rolle. Ob Frau oder Mann, spielt keine Rolle. In Beethovens Chorfantasie verschmelzen die Musiker zu einem starken Klangkörper. Sibylles Idee, Beethovens Träume lebendig werden zu lassen, ist zu wunderschöner Musik erblüht. Und einem großartigen Integrationsprojekt.