Wenn Kunst und Künstler eins werden

Ich bin taub. Nicht wütend, nicht empört, nicht schockiert. Emotional taub. Abgestumpft vielleicht. Männer haben Macht. Die einen sind sich ihrer Macht bewusst und nutzen sie, um sich für gesellschaftlich relevante Themen einzusetzen. Die anderen sind sich ihrer Macht bewusst und missbrauchen sie. Und Frauen. Als ich über die Vorwürfe gegen Rammstein-Frontsänger Till Lindemann gelesen habe, kamen kaum Emotionen hoch. Natürlich passiert sowas bei Rammstein-Konzerten, was will man denn anderes erwarten von einem 60-jährigen Rock-Star, der Vergewaltigungs-Phantasien in seinen Texten verarbeitet? Es ist doch schrecklich, dass das meine ersten Gedanken waren. Ich betreibe damit victim-blaming. Als hätten die mutmaßlichen Opfer, die „Row-Zero-Girls“ damit rechnen müssen, dass Lindemann Sex von ihnen verlangen würde. Wenn man mich zu einer Party meiner Lieblingsband einladen würde, würde ich keine Sekunde zögern. Und wo ich gerade darüber nachdenke: jetzt kommen sie doch, die Emotionen.

Ich bin kein Rammstein-Fan. Der einzige Bezug zu der Band ist ein A Cappella-Arrangement vom Song „Engel“, das ich mal im Chor gesungen habe. Kein moralisches Dilemma also, ob ich die Musik weiter genießen kann. Bei Fynn Kliemann war das anders. Kliemann hat Masken mit Europa-Siegel verkauft, obwohl sie in Bangladesch produziert worden sind. Bis zur Ausstrahlung der ZDF-Magazin Royale-Ausgabe im letzten Jahr habe ich seine Musik fast täglich gehört. Als das Team um Jan Böhmermann die Masche des Tausendsassas aufgedeckt hat, war ich enttäuscht. Was Kliemann gemacht hat, entspricht genau dem Gegenteil der Werte, für die er in der Öffentlichkeit einstand und die seinen Erfolg erklären: ein linker Typ, der Hühner zuhause hält und ein eigenes Label für sein erstes Album „Nie“ (2018) gegründet und damit ein komplettes Selfmade-Album produziert hat. Seine Musik ist kein Bestand meines Alltags mehr. Ich komme nicht mehr auf die Idee, einen Song von ihm abzuspielen. Und wenn ich seine Musik zufällig irgendwo höre, werde ich traurig. Ich verbinde seine Musik unmittelbar mit seiner Person, denn er ist seine Kunst. Sie ist höchst persönlich und ohne den Künstler nicht existent. Ich kann den Menschen Fynn Kliemann nicht vom Musiker Fynn Kliemann trennen.

Aber kann ich von mir auf andere schließen? Viele Rammstein-Fans können die Kunst sehr gut von der Person Till Lindemann trennen. Was also jetzt tun, wenn man Konzertkarten hat und sich seit Monaten darauf freut, Rammstein live zu hören? Keine deutsche Band ist bekannter für ihre legendären Auftritte. Wenn Rammstein auf Tour ist, werden hunderte von LKWs vollgeladen und durch Deutschland gefahren. Peng. Feuer schießt aus der E-Gitarre, Nebel steigt in die Luft und lässt die Band kurz verschwinden. Der Song „Engel“ verleiht Till Lindemann wortwörtlich Flügel. Mit großen, brennenden Flügeln schwebt der Sänger über der Bühne. Würde ich die Musik mögen, wäre ich wortwörtlich Feuer und Flamme für ein Konzert.

Tragen die Fans von Rammstein eine Verantwortung und sollten damit auf den Konzertbesuch verzichten? Oder sind sie zumindest dazu verpflichtet sich zu positionieren? Wer Rammstein weiterhin hören will, soll das tun. Einige Fans wollen erst urteilen, wenn die Missbrauchsvorwürfe nachgewiesen sind. Unschuldsvermutung ist wichtig, gleichzeitig sind Vorwürfe aber auch ernst zu nehmen. Sie sollen auf die Konzerte gehen, die Musik weiter hören und ihre Lieder weiter singen. Aber eine Verantwortung tragen alle Menschen, und Rammstein-Fans besonders: das Thema nicht totschweigen. Die Vorwürfe nicht ignorieren und sich mit den Auswirkungen von Machtmissbrauch beschäftigen.

Wenn man eine Band mag, ist man in erster Linie Fan der Musik. Wer Rammstein-Fan ist, hat nicht automatisch eine Vorliebe für besonders junge Frauen. Wer Rammstein-Songs covert, mischt keine Drogen in Getränke. Eine Instagram-Story von einem Rammstein-Konzert wird dann aber doch zum Statement.
Oder?


Seit Mai 2023 erheben mehrere Frauen Vorwürfe gegen Rammstein-Frontsänger Till Lindemann. Die mutmaßlichen Opfer sprechen unter anderem von Missbrauch und Vergewaltigung. Derzeit ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft gegen Till Lindemann. Mehr Infos zum Hintergrund findest du hier: ZEIT ONLINE – In lauten Nächten

Bildcredits: pixybay.com

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