Es beginnt mit einem Sternenregen. Galaxien, bewegten Bildern auf riesigen Videoscreens. Töne tropfen von allen Seiten des Raumes, fallen gemeinsam mit den digitalen Sternen. Sie stürzen in Klangflächen, Geräusche, Geflüster. Rotes Licht geleitet die Musiker auf die Bühne, ein Kontrast zu den geisterhaft grün leuchtenden Podesten, auf denen die Sänger kurz darauf erscheinen. Sie singen nicht. Kehlige Geräusche und schnarrende Töne fügen sich zu dem Gewaber an Klängen. Währenddessen wandeln sich die Sterne zu einer goldenen Doppelhelix, codiertem Leben. Die Turbinenhalle Bochum atmet und tönt aus allen Richtungen. Elliott Sharps Mikrokosmos Filiseti Mekidesi (In Search Of Sanctuary) ist erwacht.
Filiseti Mekidesi ist Amharisch und bedeutet soviel wie “Schutzraum” und “Migration”. Der Titel beinhaltet einen der Grundgedanken des Stücks: Alle Kreaturen – menschlich oder nicht – suchen nach einem sicheren, geschützten Ort.
“They killed us so we had to go.”
[Libretto, Text: Elliott Sharp]
Große, weite Attribute werden dem Werk mitgegeben: Operninstallation, audio-visuelle Reflexion, Meditation. Sie lassen viel Raum für Interpretationen und Fragezeichen. Sharps Klanginstallation soll überdies eine Brücke zu Charles Ives Universe Symphony schlagen und dadurch eine thematische Klammer für die Ruhrtriennale setzen. Gleichzeitig will das Stück ganz bewusst weder Analyse noch Lösungen bieten, sondern nur Momente und Situationen aufzeigen, eine Beobachtungsstation sein. Kein politischer Kommentar, kein Fingerzeig. Wie passt das zu einer Ruhrtriennale, die sich bewusst politisch gibt? Und wie gut kann ein Werk einen solchen Anspruch erfüllen? Warum ein solches Thema wählen und auf jegliche Analyse verzichten?
“we will storm you with words
you will have an entire ocean
we will make you our raindrop
you will have no umbrella
we will teach you our water
you will drown in our words”
[Libretto, Text: Edwin Torres]
Es wartet ein Mahlstrom aus Bildern. Sie werden mit Worten gemalt, tanzen über die Bildschirme, kriechen als melodische Bruchstücke in die Ohren. Die Zuschauer sind eingeladen, durch den Raum zu wandern. Sie stolpern dabei mitunter von Synthesizerklängen an einem Ende des Raumes in vokal erzeugte Loops am anderen Ende, während auf der Bühne das Ensemble Musikfabrik neue Klanggebäude baut und die Gesangsgruppe Voxnova Italia sich mit ihren eigenen Echos unterhält. Es ist bunt, chaotisch, verwirrend, wirkt mitunter fast etwas psychedelisch.
Die Videoscreens zeigen Landschaften, Tiere, Menschenmengen, Farbverläufe. Vieles ist unscharf, rückt nur für einen Moment in den Fokus, um danach wieder zu verblassen oder die Gestalt zu wechseln. Genau wie die Musik. Man hat kaum Zeit, einem musikalischen Gedanken zu folgen, bevor er wieder entflieht. Durch die gewollte Fragmenthaftigkeit, das klangliche Nebeneinander und den permanenten Schwebezustand fühlt man sich tatsächlich bisweilen an Ives Universe erinnert.
Alles ist aufgeladen mit Symbolik und mythologischen Bezügen, wirkt dadurch zugleich bekannt und fremd, wandelt sich beständig. Nur wenn Kamilya Jubran singt, hält selbst der Mahlstrom für eine Weile inne und lauscht. Jubran sitzt allein auf einer Tribüne. Es ist ein eigenes kleines Floß, treibend auf einer Wasserillusion aus PVC-Belag. Ihre Stimme schwebt über allem, erzählend, manchmal die Sprache verlierend. Eindringlich. Leise Melodien der Holzbläser unterstreichen ihre entrückte Klage. Nach und nach lassen sich die ziellos Umherwandernden auf dem Boden nieder.
“Saying what there is / in a time like now
means never knowing time / if time can be right
it is your job / to witness your world
to tell who will listen / so they listen like you”
[Libretto, Text: Edwin Torres]
Am Ende herrscht tatsächlich eine fast meditative Stimmung. Manche liegen auf dem Rücken, aneinander gekuschelt. Andere sitzen gedankenverloren in der Halle verteilt, aufmerksam lauschend. Einige wenige wandern noch immer umher. Die, die sich nicht länger dem Chaos aussetzen konnten, sind bereits gegangen.
Es ist nicht leicht, diese vielen offenen Fragen auszuhalten. Keine Lösung geboten zu bekommen, keine Analyse. Ja, nicht einmal klare Fragen zu haben. Es ist ein Sammelsurium aus Situationen, Anspielungen, Fragmenten, das jeglicher Interpretation offensteht. Es ist anstrengend. Und gleichzeitig unerwartet erfrischend. Inmitten eines hoch emotional geführten Streits über Migrationsbewegungen bietet Sharps Werk die Möglichkeit, selbst darüber nachzudenken, was Migration eigentlich bedeutet. Wann sie geschieht. Warum sie geschieht. Es geht nicht um Moral oder Ethik, es geht um Verständnis. Man kann sich still einen Platz in diesem Mikrokosmos suchen, sich im Mahlstrom treiben lassen und einfach nur zuhören. Zuhören und nachdenken. Das ist oft ein guter Anfang.
“Time time time
We’re gone gone gone
and we’re here Now and when
Timeless airless loveless
What is the opposite of entropy?
Here a sanctuary
our Immortal coils – four elements intertwined
multiply and make new.”
[Libretto, Text: Elliott Sharp]
Credits:
alle verwendeten Fotos © Paul Leclaire / Ruhrtriennale 2018
Hintergrundbild: Bartolomé S. Macchiarola / flickr.com / (CC BY-NC-ND 2.0)