Gohrisch. Deutschland. 1960. Ein Mann mittleren Alters sitzt allein auf einer Bank. Geschützt vor der Julisonne unter einer dichten Buche schaut er scheinbar apathisch durch seine leicht oval dickbeglaste Brille auf einen fischlosen kleinen Teich. Es ist sein Lieblingsort. Rückzugsort. Die kleine Idylle in der sächsischen Schweiz vor dem Hotel Albrechtshof lässt ihn vergessen, dass er eigentlich hier ist, um Filmmusik zu schreiben.
Für einen Moment vergisst er auch die russischen Funktionäre und Soldaten, deren durchbohrende misstrauische Blicke er stets auf seinem Rücken zu spüren scheint. Er vergisst die Politik, die ihn seit Stalin bis zum heutigen Tag versucht hat zu steuern und zu missbrauchen. Er vergisst den Nervenzusammenbruch, den er kurz vor seinem einzigen Aufenthalt in Deutschland erlitten hat. Er vergisst für einen Moment das nie enden wollende weltkriegerische Echo des naheliegenden zerbombten Dresden, das er gestern besucht hat. Er denkt an nichts. Für einen kurzen, heimlichen Moment ist er fast glücklich. Dann schärft sich sein Blick.
Er schlägt die Beine übereinander. Sein illusorisches Lächeln verweht. Blicklos greift er eine Zigarette aus der fast leeren Schachtel in seiner Brusttasche. Er entfacht sie. Dann lehnt er sich zurück und hinter seinen brillenverstärkten unergründlichen Augen beginnt die Komposition seines persönlichsten Werks…
Nur drei Tage brauchte Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch (1906-1975) um sein 8. Streichquartett in c-moll op. 110 fertigzustellen. Es ist durchwachsen mit Selbstzitaten all seiner Schaffensperioden. Hier blickt ein Komponist auf seine eigene Vergangenheit und auf die jüngere Geschichte zurück: Stalinismus. Weltkrieg.
Die stalinistische Schreckensherrschaft in der Sowjetunion hat den Komponisten zur inneren Emigration gezwungen. Kompositionen wurden verboten, befreundete Künstler verschwanden, wurden getötet. Nach außen ergibt er sich dem Druck der Partei. Seine Symphonien, im Blickpunkt der Öffentlichkeit, sind scheinbare Manifeste der sowjetischen Ideologie. Aber nur scheinbare, denn auch hier findet Schostakowitsch einen Weg durch Ironie bzw. Parodie seinen wahren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Innerlich ist er zerrissen, unglücklich und depressiv. Die private Atmosphäre von kammermusikalischen Werken bietet ihm die Gelegenheit für Aufrichtigkeit. Aber auch das Streichquartett ist nicht vor einer linientreuen Umdeutung bewahrt worden:
Offiziell den „Opfern des Faschismus“ gewidmet, wird in einem Brief von Schostakowitsch an einen Freund, mit einem nicht zu unterschätzenden ironischen Tonfall, der typisch für ihn ist, deutlich, wer das wahre “Opfer” in diesem Streichquartett ist:
„Wie sehr ich auch versucht habe, die Arbeiten für den Film im Entwurf auszuführen, bis jetzt konnte ich es nicht. Und stattdessen habe ich ein niemandem nützendes und ideologisch verwerfliches Quartett geschrieben. Ich dachte darüber nach, dass, sollte ich irgendwann einmal sterben, kaum jemand ein Werk schreiben wird, das meinem Andenken gewidmet ist. Deshalb habe ich beschlossen, selbst etwas derartiges zu schreiben. Man könnte auf seinen Einband auch schreiben: ‘Gewidmet dem Andenken des Komponisten dieses Quartetts’. Grundlegendes Thema des Quartetts sind die Noten D. Es. C. H., d.h. meine Initialen. […] Dieses Quartett ist von einer derartigen Pseudotragik, dass ich beim Komponieren so viele Tränen vergossen habe, wie man Wasser lässt nach einem halben Dutzend Bieren. Zu Hause angekommen, habe ich es zweimal versucht zu spielen, und wieder kamen mir die Tränen. Aber diesmal schon nicht mehr nur wegen seiner Pseudotragik, sondern auch wegen meines Erstaunens über die wunderbare Geschlossenheit seiner Form.“
(Schostakowitsch am 19. Juli 1960 an Isaak Glikman)
Moskau. Russland. 1962. Ein Mann sitzt auf einem massivem Buchenholzstuhl in seinem Wohnzimmer. Diesmal ist er nicht allein. Vor ihm sitzen vier Musiker, die nervöser als sonst ihre vier Streichinstrumente entblößen. Die angespannte Stille wird respektvoll und schüchtern vom Cello verdrängt. Es spielt die Noten D-ES-C-H. Imitierend setzt die Viola, dann die beiden Violinen nach und nach ein. Der Mann auf dem Stuhl verschränkt die Arme, lehnt sich zurück. Die Zigarettenschachtel in seiner Brusttasche fühlt sich leer an. Durch seine dickbeglaste Brille wirken die weit aufgerissen Augen übergroß. Dann schließt er sie. Versteckt sie in seinen Händen.
„Morendo“, sterbend verklingt das Quartett mit einem terzlosen c-moll. Die Musiker des Borodin-Quartetts verlassen lautlos seine Wohnung.