Alexander Hamilton und Dmitri Schostakowitsch sind zwei Namen, die wohl eher selten in einem Satz fallen. Eliza Hamilton und Irina Antonowa Schostakowitsch vermutlich bisher nie. Dennoch begann in meinem Kopf sofort das Finale des Musicals über den ersten Finanzminister der USA zu spielen, als ich im Programm von der Preisverleihung des Internationalen Schostakowitsch Preises Gohrisch an Irina gelesen habe. Denn in diesem Song steht Alexanders Ehefrau Eliza im Mittelpunkt und wird als diejenige gezeigt, die seine Geschichte nach seinem Tod weitererzählt.
Genau wie Eliza wird Irina im nächsten Jahr – nach nur 13 Jahren Ehe – 50 Jahre Dmitris Witwe gewesen sein und hat in all diesen Jahrzehnten über seinen Nachlass gewacht und an Editionen von seinen Werken mitgearbeitet. Einen Wikipedia-Artikel über sie sucht man allerdings vergeblich, Informationen zu ihrer Person sind selbst im World Wide Web rar gesät. Der beim Festival als europäische Erstaufführung gezeigte Dokumentarfilm von Elena Yakovich The Two. The Story Told by Shostakovich’s Wife sollte Abhilfe schaffen.
The Two – oder doch The One?
Die Dokumentation mit reichlich historischem Bildmaterial verwebt ab Irinas Geburtsjahr 1934 ihr Leben mit dem des 28 Jahre älteren Dmitri. Beide sind in Leningrad (heute St. Petersburg) geboren, werden durch Verluste im Krieg und Stalinismus geprägt – all das durchleben sie ‚gemeinsam‘ ohne sich zu kennen. Irinas Vater, Kurator im Ethnographischen Museum, wird ins Arbeitslager verschleppt, ihre Mutter stirbt an ‚gebrochenem Herzen‘. Auch die Großeltern verliert sie früh durch Hunger und Kälte auf der Flucht aus der Leningrader Blockade. Nach einem Sprach- und Literaturstudium nimmt sie Arbeit als Editorin in einem Musikverlag an. Hier verschränken sich die Lebensgeschichten der beiden – auch wenn Irina Heiratsanträge Dmitris zunächst ablehnt, aus Unsicherheit darüber, was ihr Platz in seinem Komponisten-Leben – zudem mit zwei Kindern in ihrem Alter – sein könnte. Ein Ultimatum lässt sie eine Entscheidung zu seinen Gunsten treffen und die beiden heiraten 1962. Die abgesehen von ihrer tragischen Kindheit in Leningrad bereits wenig detailreiche Geschichte Irinas, verläuft ab diesem Punkt ins Nichts. Sie tritt in den Schatten des Komponisten, als Muse und Begleiterin, selbstlose Unterstützerin und letztlich Krankenpflegerin, immer auf der Suche nach Heilmethoden für Dmitris mysteriöse Leiden. In dem langen Interview der Regisseurin mit Irina, das die Grundlage des Films bildet, spricht sie kaum über sich, nur über ihren Ehemann. Sie ist stille Beobachterin seiner Treffen mit Freund*innen, Kolleg*innen und Bekannten, hat scheinbar kein eigenes soziales Umfeld und wird schon zu Lebzeiten zu einer Historiographin für seine Musik, zeichnet zahlreiche Proben seiner Stücke in den eigenen vier Wänden auf. Der Film endet mit Dmitris Tod. Über Irinas Tätigkeiten um sein Erbe erfahren wir nichts. Sie sagt: „We were like one person“. Diese Person war der Komponist.
Preisverleihung in Abwesenheit
Aufgrund ihres hohen Alters und erschwerten Reisebedingungen durch Putins Angriffskrieg auf die Ukraine fand die Preisverleihung ohne Irina statt. Die Vertraute Olga Digonskaya, Archivarin des Schostakowitsch-Archivs in Moskau, nimmt den Preis entgegen, der Freund, Komponist und Musikwissenschaftler Krzysztof Meyer hält die Laudatio. Mehr als der Film schaffen es die beiden ein Gefühl für Irina als Mensch zu vermitteln. Fast beschämt zurückhaltend und bescheiden still sei sie gewesen als der Komponist noch lebte, habe die perfekten Bedingungen für sein Schaffen hergestellt, indem sie das Haus ordentlich gehalten und den stets nervösen Komponisten beruhigt habe. Sie habe würdevoll im Schatten gelebt. Nach seinem Tod stürzte sie sich auf ihre neue Aufgabe als Verwalterin seines Nachlasses. Sie gründete den DSCH Verlag, der heute fast seinen Zweck in der Veröffentlichung aller Stücke Schostakowitschs inklusive Skizzen, Unvollendetem und Bearbeitungen erfüllt hat. Zudem die Internationale Schostakowitsch Assoziation in Paris. In Auseinandersetzungen über Erzählungen und Interpretationen über ihn und sein Werk hält sie sich diplomatisch zurück, bleibt ihrem Versprechen an ihren öffentlichkeitsscheuen und schüchternen Ehemann treu, keine Memoiren und Details ihres gemeinsamen Lebens zu veröffentlichen. Das erklärt, warum es viel Überzeugungsarbeit brauchte, sie zu dem Film zu bewegen und, warum beide als Privatpersonen in diesem kaum auftauchen. Damals wie heute behält sie ihre Gedanken für sich. Als Botschaft zur Preisverleihung lässt sie übermitteln, sie habe die Ehrung nicht verdient, Dmitri habe alles gemacht und sie als sein Schatten nur das, was ‚nötig‘ war. Auch durch ihre Abwesenheit in Gohrisch schreibt sie sich selbst aus der Geschichte, seiner Geschichte, heraus. Sie überlässt die Bühne (wie immer) dem Komponisten.
Einflussreiche Künstlerwitwe?
Künstlermusen kennen wir zu Genüge. Aber auch die um den Nachlass und Anerkennung für ihren ‚genialen‘ Mann bemühten Witwen, wie Eliza und Irina, sind keine Seltenheit. Dabei fällt es schwer, die betreffenden Frauen aus heutiger Sicht nicht auch mit Mitleid zu bedenken, unter dem Eindruck, dass sie selbst sich nie entfalten konnten. Insbesondere in Bezug auf Künstlerwitwen lässt sich leicht unterschätzen, welchen Einfluss ihre Arbeit um das Erbe ihrer Ehemänner auf Kanonisierung und Geschichtsschreibung hatte und hat (stellt euch nur einmal vor, Eliza hätte nicht nur ein paar Liebesbriefe ihres fremdgehenden Mannes verbrannt…). Ein Fokus darauf hätte dem Dokumentarfilm Yakovichs – ohne die Privatsphäre der Schostakowitschs zu verletzen – mehr Brisanz verliehen und tatsächlich neue Aspekte zur Diskussion gestellt. Vielleicht wäre er auch seinem Titel The Two etwas gerechter geworden.
Bildcredits: Robert Mizrahi, Bearbeitung durch die Autorin