Musikvermittlung per App

Apps auf dem Smartphone oder Tablet-PC sind unverzichtbar; einige haben Alltagsnutzen – etwa als Einkaufsliste oder Kalender –, andere bereiten aktuelle Nachrichten auf und dritte sind einfach unterhaltsame Spiele. Wenn man nach Apps zu klassischer Musik sucht, dann findet man zunächst eine Schwemme von Playlists: Meisterwerke für jeden, Musik für Babys, für Kinder, für Mamas… Oder die App verwandelt das Handy in ein Instrument: Gitarre, Klavier, Okarina – alles ist möglich. Es gibt aber auch Apps, die nicht nur Musik abspielen, sondern die klassische Musik näher bringen möchten – unterhaltsam und informativ. Vier solcher Musikvermittlungs-Apps stellen wir auf terzwerk vor.

Musikvermittlung per App

»Beethovens 9. Symphonie«

Die App „Beethovens 9. Symphonie“ war 2013 die Sensation auf dem deutschen Klassik-Markt. Weltweit ist sie über eine Million Mal geladen worden. Entwickelt wurde die App von der Produktionsfirma Touch Press und dem Label Deutsche Grammophon. Sie haben als Erste eine einzige Komposition in den Fokus einer App gestellt und dann auch noch diese:

Jeder hat diese Melodie irgendwo schon einmal gehört. Die App möchte dazu anregen, unter die Oberfläche der Neunten Symphonie zu blicken. Sie bietet dem Nutzer gleich vier verschiedene Interpretationen der Symphonie – das ist ein tolles, allerdings auch erschlagendes Angebot.

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Vier Interpretationen stehen zur Auswahl: Fricsay (1958), Karajan (1962), Bernstein (1979) und Gardiner (1992)

Durch bloßes Tippen kann man von der Aufnahme mit Herbert von Karajan aus dem Jahr 1962 zur historisch informierten mit John Eliot Gardiner wechseln und die beiden Interpretationen unmittelbar vergleichen. Gardiner kommt auch im Interviewteil der App zu Wort und erzählt, was ihn an der Neunten immer wieder beeindruckt. Insgesamt zwölf kurze Interviews kann man sich anschauen. Nicht alle sind gewinnbringend, weil nicht jeder Musiker oder Dirigent etwas Schlaues oder Neues über Beethovens Neunte zu sagen weiß.

In einem langen Erklärungsteil wird Beethovens Leben und die Entstehungsgeschichte der Neunten so erzählt, dass Details im Kopf bleiben. Außerdem gibt es eine richtige Werkanalyse, der man allerdings nicht so leicht folgen kann. Leichter funktioniert da der Live-Kommentar zur Musik. Es ist ein Versuch, die Musik aufzuschlüsseln, während man sie hört. Kurze umschreibende Sätze werden abschnittweise eingeblendet, sie lesen sich wie ein Live-Ticker, während die Musik spielt. Ein Beispiel: Der Kommentar zum Anfang des ersten Satzes der Neunten Symphonie.

0’00: Ein mysteriöser Anfang – ein kosmisches Summen von nur zwei Noten, mit Rhythmusfunken, die immer klarer durch die Dunkelheit aufblitzen.

0’29: Ein mächtiges Thema stürzt auf uns herab: Ein Drache von einem d-Moll Akkord, der mit seinem rhythmischen Schwanz peitscht. Die erste Aussage von Beethovens Argumentation ist getroffen.

0’47: Ein bedeutsamer Rhythmus der Trompeten und der Pauken treibt das Orchester an, während es wieder zu d-Moll zurückkehrt.

0’56: Die Musik versucht, voranzukommen…

1’00: … aber huscht zurück in die Dunkelheit, wo die Rhythmusfunken erneut aufblitzen.

Wem diese Versprachlichung von Beethovens Musik zu blumig und zu ungewohnt ist, kann die schmale Wortleiste auch ignorieren und die Symphonie einfach so anhören. Funktioniert auch.

Einen besonderen Überblick über das Zusammenspiel des Orchesters bietet die sogenannte Beatmap, eine schematische Darstellung des Orchesters. Die Instrumentengruppen sind wie gewohnt im Halbkreis angeordnet, der Einfachheit halber werden die Musiker durch einfarbige Kreise symbolisiert. Wenn die Celli oder die Hörner spielen, dann schwellen ihre Kreise rhythmisch an und ab.

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Im rechten Bild spielen gerade die hohen Streicher, die Hörner und die Fagotte, darum sind ihre Kreise größer.

Wenn das ganze Orchester spielt, dann pulsieren alle Kreise eifrig, bei einem Solo bewegt sich nur ein einziger Kreis. Diese einfache Darstellungsweise ist überraschend unterhaltsam, wenn auch nur für kurze Zeit.

Die Beatmap ist ein Versuch, Musik ohne Noten zu visualisieren. Das ist wichtig, wenn es darum geht, mit der App auch Nutzer anzusprechen, die keine Noten lesen können. Für sie gibt es auch eine notenfreie Partitur: Statt Notenköpfen sieht man waagerechte Balken, die je nach Tonhöhe höher oder tiefer liegen und die je nach Tonlänge länger oder kürzer sind. Mit dieser schematischen Darstellung kann man leicht erkennen, ob zwei Stimmen parallel verlaufen oder ob eine Stimme immer wieder denselben Ton spielt.

Natürlich gibt es auch die klassische Partitur: Mit Noten und einer dünnen Linie, die automatisch als Cursor automatisch mitläuft.

Fazit:

Die App „Beethovens 9. Symphonie“ versucht, diese „alte“ Musik wiederzubeleben. Dass sie hierfür gleich vier verschiedene Interpretationen der Neunten liefert, kann anfangs überfordern. Allerdings macht gerade diese Vielfalt deutlich, dass klassische Musik durch die Interpretationen lebt und dass sie mit der Zeit geht. Auch die Interviews mit ihren Kommentaren zum Tempo oder zur Lieblingsstelle können Interesse wecken.

In der kostenlosen Demo-Version hört man nur zwei Minuten vom zweiten Satz. Die ganze Symphonie in allen vier Einspielungen und das Extra-Material gibt es für 14 Euro.

Die Firma Touch Press hat noch drei weitere Klassik-Apps entwickelt. Bislang gibt es von keinem anderen Hersteller vergleichbare Apps, darum werden hier nur Apps von Touch Press betrachtet.

»The Liszt Sonata«

Es muss nicht immer der ganze große Orchesterapparat sein. In der App zur h-Moll Klaviersonate von Franz Liszt gibt es nur ein Instrument: den Konzertflügel.

Der Pianist Stephen Hough spielt dieses virtuose Mammutwerk für uns. Und zwar wie im Livekonzert, ungeschnitten! Drei Kameras haben seine Aufführung eingefangen, eine ist besonders interessant: Es ist als würde man wie Stephen Hough selbst auf seine Hände schauen und sehen, wie seine Finger über die Tasten sausen – 30 Minuten lang!

Wer möchte, kann im Notentext verfolgen, ob Hough auch wirklich alle Noten trifft. Für Nutzer, die keine Noten lesen können, gibt es aber auch eine schematische Darstellung des Notenbildes. Sie funktioniert wie eine Notenrolle für ein mechanisches Klavier: Farbige Balken bewegen sich auf die Tastatur zu und zeigen an, welche Taste als nächstes wie lange angeschlagen wird.

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Stephen Houghs Hände unter strenger Beobachtung, ob er auch wirklich alle Töne trifft.

Wie auch in der App zu Beethovens Neunter gibt es Texte zu Franz Liszt, zur Sonatenform und eine Werkanalyse. Hier findet man kurze Tonbeispiele, die dabei helfen, das Motivgeflecht der Sonate zu verstehen. Und Stephen Hough gibt in kurzen Videoclips persönliche Einschätzungen zu Liszts Sonate ab, wie: „What’s really difficult about this piece is […] the combination of head and heart.“ Dabei stellt er auch motivische Verknüpfungen in der Sonate am Klavier vor.

Fazit:

Für Klavierinteressierte ist die The Liszt Sonata eine fesselnde App. Der Blick von oben auf Stephen Houghs Hände macht das Erlebnis der Aufführung unmittelbar. Und der Infoteil samt Werkanalyse ist aufschlussreich, weil die Worte von vielen kleinen Tonausschnitten und Video-Erläuterungen begleitet werden. Die 14 Euro für die Vollversion der App aber bezahlt wahrscheinlich nur, wer von Liszt oder Klaviermusik im Allgemeinen schon angefixt ist.

»Vivaldis Vier Jahreszeiten«

Diese App ist eine groß angelegte PR-Aktion für ein Crossover-Projekt von Max Richter: „Vivaldi Recomposed“.

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Links Antonio Vivaldi, rechts Max Richter. Ähnlichkeiten?

Max Richter hat Vivaldis Jahreszeiten durch den Fleischwolf gedreht, herausgekommen ist eine Musik mit Lounge-Charakter. Er schlägt damit einen Bogen von Vivaldis Solokonzerten zum 21. Jahrhundert, zu aktueller Musik. Und wie es die App darstellt, ist dies eine Maßnahme, um für Vivaldis Jahreszeiten neu zu begeistern; gegen die verblödende Allgegenwart von der Musik des italienischen Komponisten im Alltag.

Der Geiger Daniel Hope, der den Solo-Part in Richters Komposition übernommen hat, spricht, als hätten sich Vivaldis Jahreszeiten durch Richter einer Reinigungskur unterzogen.

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Der Geiger Daniel Hope

In einem der Videoclips in der App sagt er:

„It’s a terrible infestation when you go into an elevator and you hear a looped Vivaldi put through a blender. And I was weary when Max [Richter] first approached me because exactly of that fact. […] But from the first moment I saw that score I thought that is actually exactly what Vivaldi needs!“

Was Vivaldi braucht, sind aber nicht so pathetische Floskeln, wie man sie im Einleitungstext der App findet: Vivaldis Vier Jahreszeiten seien „hinreißende Violinkonzerte voller unvergesslicher Orchestermelodien“ und „in jeder Hinsicht unübertroffene Meisterstreiche der musikalischen Phantasie und Einfallskraft“.

Besser gelungen sind die Erläuterungstexte zu beiden Kompositionen. Bei Vivaldi führen sie sogar über die plakativen, programmmusikalischen Aspekte hinaus, es fallen Begriffe wie Ritornell-Form, Dominante und Subdominante. (Diese werden elegant in kleinen Extra-Fenstern definiert.) Man schaut so Satz für Satz in die Textur dieser barocken Konzerte. Und kleine Musikausschnitte helfen dabei, den Beschreibungen zu folgen. Bei Max Richter liegt der Fokus auf Kompositionstechniken und der Beziehung zum Original. Der Komponist kommt in Videofenstern immer wieder selbst zu Wort.

Eine Aufführung von Vivaldi Recomposed bietet die App als Video und auch als Beatmap. Das Original gibt es nur als Beatmap. Die pulsierenden Kreise bieten besonders für imitatorische Sequenzen eine intuitive Visualisierung.

Fazit:

Die Vivaldi-App verbindet Denkmalpflege mit aktueller Musik: Max Richters Vivaldi Recomposed existiert nur durch Vivaldis Vier Jahreszeiten, und diese verdanken ihre neue Popularität Richters Komposition. Vivaldi ist dabei nicht nur das musikalische Sprungbrett für Max Richter. Seine vier Konzerte werden kleinteilig betrachtet, unter Kombination von Text, Interviews und Tonbeispielen. Und genauso Richters Komposition.

Auch diese App kostet in der Vollversion 14 Euro.

»Das Orchester«

„I created The Orchestra-App to share my love for classical music, to make it more approachable“, sagt Esa-Pekka Salonen, Chefdirigent des Philharmonia Orchestra aus London. Mit der App „Das Orchester“ möchte er seine Liebe für klassische Musik mit der jungen Generation teilen.

Da Salonen sich diese App ausgedacht hat, sieht man seine schwarze Silhouette mit Taktstock in der Hand im Icon zur App. Aussage: Das Orchester, das ist der Dirigent.

Ganz so stimmt das natürlich nicht. Aber: Der Dirigent führt alle Musiker zusammen, er achtet darauf, dass nichts rhythmisch oder musikalisch aus dem Ruder läuft. Darum darf Salonen in der App auch am meisten erzählen. Zu seinen Aufgaben als Dirigent und zu den acht Werken, die das Spektrum der Orchestermusik der letzten 250 Jahre abbilden. Es fängt an bei Haydn, geht über Beethovens Fünfte und die Symphonie Fantastique bis zum Konzert für Orchester von Lutoslawski. Den letzten Punkt auf dem Zeitstrahl der Musikgeschichte setzt das Violinkonzert von Salonen selbst, er ist ja nicht nur Dirigent, sondern auch Komponist.

Die acht Werke liegen nur ausschnittweise vor. Der Fokus liegt nicht darauf, eine Komposition als Ganzes zu erfahren, sondern die Interaktion der Musiker zu erleben. In drei verschiedenen Kameraeinstellungen kann man den Dirigenten und die Orchestermusiker beobachten.

Ein weiteres nettes Feature ist der Live-Kommentar von Orchestermusikern oder dem Dirigenten zur Musik. Das Prinzip kennt man von DVD-Extras, die den ganzen Film mit Kommentar des Regisseurs zeigen. Und hier plauschen der Kontrabassist und der Trompeter darüber, wie es ihnen geht, wenn sie z.B. Mahlers Sechste spielen.

In der App „Das Orchester“ geht es aber nicht nur um die Musik, sondern auch um die einzelnen Instrumente. Ein jedes wird vorgestellt, selbst ein Exot wie die Kontrabassklarinette, die liebevoll „Meeresungeheuer des Sinfonieorchesters“ genannt wird.

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Ruth Holden präsentiert ihr Instrument, die Harfe. Die Tastatur unten liefert Harfenklänge, wie ein Keyboard.

 

Jedes Instrument wird in einem kurzen Text möglichst ansprechend präsentiert. Daneben stellt ein Musiker des Orchesters in einem Video sein Instrument vor. Die Harfenistin erzählt beispielsweise von Details wie den verschieden farbigen Saiten ihres Instruments oder den Pedalen, man kann diese aber nicht erkennen. Ein wenig näher kommt man ihrem Instrument aber doch noch durch eine – allerdings sterile – 360° Ansicht.

Fazit:

Esa Pekka Salonen ist leider nicht Leonard Bernstein. Er hat zwar visionäre Ideen, wie diese App, aber als Musikvermittler fehlt ihm Charisma. Er bleibt zu kühl und gefasst in seinen Erklärungen, um für die Musik zu begeistern.

Immerhin: Der musikalische Kanon dieser App reicht bis ins 21. Jahrhundert und endet nicht schon bei Mahler. Und auch die Vorstellung der Orchesterinstrumente ist gut gemacht, aber bildlich hätte sich gerade bei den Instrumenten mehr Liebe zum Detail ausgezahlt.

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