Musik kann unser Innerstes berühren und Emotionen aus längst vergangenen Zeiten hervorholen. Das macht sich die Musiktherapie zunutze. Aber worin liegt der Reiz, beruflich ständig mit den Emotionen fremder Menschen konfrontiert zu sein?
Der einzige Scheinwerfer, der ihn heute beleuchtet, ist das Tageslicht. Aufrecht sitzt er in seinem dunkelgrünen Hemd und seiner schwarzen Hose mit dem Rücken zum Fenster, die Gitarre auf seinem Schoß. Hinter ihm ein fleckiges, beiges Sofa, das mit kratzigem Stoff bezogen ist. Es hat schon bessere Tage gesehen. Außer einer Roy Black CD lassen sich kaum persönliche Gegenstände finden. Im Mittelpunkt des Zimmers steht ein Bett. Links daneben ein mit Medikamenten voll beladener Nachttisch. Darauf eine Rolle Toilettenpapier. Der Raum wirkt steril und kalt. Die Luft ist verbraucht und stickig. Es riecht stark nach Desinfektionsmittel. „Wie sind Sie denn in den Mittag gekommen?“
Das Publikum ist heute eher klein und still. Eine alte Frau mit eingefallenem Gesicht liegt links von ihm, wie ein Paket in zwei Decken eingepackt, in ihrem von Holzstreben gerahmten Bett. Nur zu ihrer Sicherheit versteht sich. Sie hat Demenz in einem fortgeschrittenen Stadium. Ob sie sich wohl wie im Gefängnis fühlt? Niemand weiß die Antwort. Ob sie gerne mal wieder tanzen würde? Auch diese Frage ist nicht zu beantworten. Ihre Augen sind klein und geschlossen. Wenn sich die Decken nicht langsam von ihrem angestrengten Atmen heben und senken würden, könnte man fast meinen, sie wäre nicht mehr da. Keine Reaktion.
„Willkommen zur Musik“
Seit zwei Jahren kommt Philipp Steinke einmal pro Woche in das Altenheim im südwestlichen Münsterland. Er ist einer von deutschlandweit 23 ambulanten Musiktherapeuten, die mit dem Franchise-Unternehmen „Musik auf Rädern“ in 17 Städten die Musik direkt zu ihren Patienten nach Hause bringen. Die Krankheitsbilder, die er dabei behandelt, sind sehr verschieden: Demenz, kognitive Erkrankungen, Patienten im Wachkoma, im Hospiz oder mit geistiger und körperlicher Behinderung.
Die Frau im Bett – wir nennen sie Frau Schmitt – kann nicht mehr sprechen und ist bettlägerig. Philipp Steinke sucht den Körperkontakt. Behutsam streicht er mit seiner linken Hand immer wieder über die Stelle des Deckenpakets, wo er ihren Arm vermutet. Obwohl sie sich nicht mehr artikulieren kann, unterhält er sich mit ihr über ihr Befinden und ihren Gesundheitszustand. Immer wieder macht er dabei Pausen, wartet auf ihre Antwort. Diese beschränken sich – wenn überhaupt – auf ein Seufzen oder ein schweres Atmen. Er beobachtet sie ganz genau. Dann greift er zu seiner Gitarre. Sanft gezupfte Gitarrenakkorde erfüllen den Raum. Dazu singt er leise eine einfache Melodie: „Willkommen zur Musik. Schön, dass Sie da sind.“ Zum ersten Mal in der Begegnung der beiden, gehen die kleinen Augen von Frau Schmitt richtig auf. Tränen laufen ihr übers Gesicht.
Begegnung von zwei Menschen über die Musik
Mittlerweile ist sich auch die Wissenschaft einig, dass Musik in unserem Gehirn unterschiedliche Bereiche anspricht. Der Gehörsinn ist von allen menschlichen Sinnen der, der kurz vor dem Tod noch am längsten funktioniert. Sogar dann sind wir noch in der Lage, akustische Reize zu registrieren und zu verarbeiten. Selbst wenn wir diesen vielleicht keine Bedeutung mehr zuschreiben können. Hören wir ein vertrautes Lied oder eine aus der Kindheit bekannte Melodie, werden verschiedene Gehirnregionen aktiviert und wir erinnern uns an die Erlebnisse, die damit verknüpft sind. Dies macht sich die Musiktherapie besonders bei Demenzerkrankten gemeinsam mit einer sich anschließenden intensiven Biographie-Arbeit zunutze. „Die Biographie-Arbeit ist sehr spannend. Leider ist es oft den Umständen und der Zeit geschuldet, dass man sich nicht mit der Biographie des Patienten beschäftigen kann. Dann geht es verstärkt um die Musik und die Begegnung, die darüber zwischen dem Therapeuten und dem Patienten entsteht“, sagt Philipp Steinke.
Die Begegnung zwischen Frau Schmitt und dem Musiktherapeuten findet hauptsächlich auf der Ebene von alten, bekannten Volksliedern statt. „Du, du liegst mir im Herzen, du, du liegst mir im Sinn.“ Von draußen dringt trotz der geschlossenen Tür Krach herein. Eilige Schritte auf dem Flur. Das dunkle Grollen von rollenden Wäschewagen auf dem Linoleumboden. Aufgeregte Stimmen. Das durchdringende, nicht enden wollende Telefonklingeln. Für Frau Schmitt scheint dies keine Rolle zu spielen. Mit so weit geöffneten Augen wie sie nur kann, lauscht sie den leisen Gitarrenklängen und seinem ruhigen Gesang. Hin und wieder seufzt sie dabei tief. Immer noch laufen ihr die Tränen über das Gesicht. „Und, und wenn in der Ferne, mir, mir dein Bild erscheint, dann, dann wünscht ich so gerne, dass uns die Liebe vereint.“ Bei diesen letzten Zeilen stößt sie einen kleinen Schrei – wie der eines Babys – aus. Der Schrei verklingt nicht sofort. Rau und heiser dringen aus ihrer Kehle Laute hervor, die nur schwer zu deuten sind. Weinen? Wimmern? Schreien? Oder vielleicht der Versuch zu Singen?
„Ich komme wieder nächste Woche.“
Mit einem lauten Knall geht die Tür auf. Die Musik bricht jäh ab. „Die Frau Schmitt duschen wir heute aber nicht mehr!“, ruft eine stabile, rundliche Krankenpflegerin in lila Arbeitskleidung ihrer Kollegin kaum überhörbar zu. „Oh Entschuldigung! Wie lange braucht ihr noch etwa?“, murmelt sie, als sie bemerkt, dass sie die Musiktherapie stört. Frau Schmitt wird unruhig. Ihr Atem geht schneller, ihre Schreie werden lauter.
„Noch so 10 Minuten“, beantwortet Philipp Steinke die Frage und stellt die Gitarre beiseite. Er bemüht sich, die aufgebrachte Frau Schmitt im Bett zu beruhigen. Immer wieder streichelt er ihr sanft über den Arm, beugt sich über sie, spricht ihr gut zu. Mit mäßigem Erfolg. Sie weint bitterlich. Erst, als er die Zither aus der Tasche hervorholt, sie über die Holzstreben des Bettes hebt und eine fernöstlich angehauchte Melodie darauf spielt, beruhigt sie sich langsam. Ihr Atem wird regelmäßiger, die Schreie werden weniger und leiser.
„Oh je, Frau Schmitt! Ich glaube, ich mache erstmal ihr Gesicht sauber“, sagt der Therapeut nach dem Verklingen des letzten Tons. Er steht auf, geht um das Bett herum zum Nachttisch, reißt ein paar Blätter vom Toilettenpapier ab und trocknet damit sorgsam ihre Tränen. Dann setzt er sich wieder neben das Bett, zupft ihre Decke zurecht und greift zur Gitarre. „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin“. Bevor er seine Gitarre und die Zither wieder einpackt, stimmt er das Lied von der Loreley an.
„Ich komme wieder nächste Woche“, verabschiedet er sich von ihr.
Leben am emotionalen Limit?
Ob es ihn auch persönlich belastet, mit den Gefühlen und Todesängsten seiner Patienten konfrontiert zu sein? „Manchmal treffen einen die Emotionen und man weint mit den Patienten mit. Das ist dann aber okay. Das gehört zum Job dazu“, erzählt der Therapeut auf dem Weg zu seinem nächsten Patienten. Auf den schmalen Gängen des Altenheims intensiviert sich der Geruch nach Desinfektionsmitteln. Aus einem großen verglasten Aufenthaltsraum, der mit seinen Regalen voll Thermoskannen und Gläsern nach einer Teeküche aussieht, dringt Schlagermusik. „Tulpen aus Amsterdam.“ Darin stehen mehrere Tischgruppen, an denen vereinzelt ein paar alte Menschen sitzen. Ihre Schultern hängen müde und schlaff herunter. Trotzdem lächeln sie. Bei einer Tasse Kaffee lauschen sie gespannt der Musik. Es scheint, als gebe die Musik ihnen ein Fünkchen Lebensfreude. „Ich empfinde das aber auch als Bereicherung ehrlich gesagt, weil der Job dadurch eine Tiefe bekommt, die mich gerade reizt“, sagt er mit leuchtenden Augen. Es sei selbst für die Therapeuten immer wieder verblüffend und aufregend, welche Lebensgeister bei alten, kranken Menschen mit Musik geweckt werden könnten.
Ein Gespür für Menschen und Musik
Musik allein ist nicht alles in seinen Therapiestunden. „Es ist wichtig, dass es nicht nur Musik und Klang gibt, sondern auch mal Momente der Stille, in denen man zusammen das Geschehene verarbeiten kann“, erklärt Philipp Steinke. So auch in einer Gruppe geistig und körperlich behinderter Menschen in einem Wohnheim in Münster, das er einmal in der Woche abends besucht. Ein Flachdach, vier Stockwerke, dunkelroter Putz. Eine silbern gerahmte Glastür, ein langer, weiß gestrichener Hausflur, ein Teppich zum Abtreten der Füße. Ein ganz normales Mehrfamilienhaus. Was anders ist? Überall an der Wand kleben Zettel in blauer, krakelig geschriebener Kinderschrift. Bedienungsanleitungen für die Tür. Für den Erste Hilfe Kasten. Für die Klingel. Mit einem ruckelnden Aufzug geht es in den vierten Stock. Am Ende des Flurs der Therapieraum. Es riecht nach einer Mischung aus Kaffee, Früchtetee und frisch bedrucktem Papier.
17:30 Uhr. Philipp Steinke hat die Stühle im Raum zu einem Kreis aufgestellt, seine Gitarre, eine mit schwarzen Zickzackmustern verzierte Trommel und kleine Rhythmusinstrumente ausgepackt. Langsam trudeln sechs Teilnehmer ein. Darunter ein Mädchen mit Down-Syndrom, ein älterer Mann mit einer Klingel am Gehstock und ein Junge mit Down-Syndrom in Jogginghose mit einer Gitarre in Pink.
Plötzlich ist es laut. Alle haben ihm während der Stunde etwas zu erzählen und er hört einfach zu. Zwischen den Gesprächen singen oder musizieren sie zusammen. „Über den Wolken, muss die Freiheit wohl grenzenlos sein.”
Wichtig sei es bei der Therapie, die Musik an die individuellen Bedürfnisse der Patienten anzupassen, meint Philipp Steinke. „Ich glaube, man muss da ein Gespür für entwickeln. Dadurch, dass Musik so viele Emotionen auslösen kann, muss jede musikalische Intervention gut durchdacht sein“, verrät er seine Herangehensweise.
„Darf ich bitten zum Tango um Mitternacht“
Das Spannendste an seinem Beruf sei es, „den unterschiedlichsten Menschen zu begegnen, sie zu respektieren und wertzuschätzen. Einfach eine intensive Begegnung zwischen zwei Menschen mit Musik zu erleben“, sagt er.
„Darf ich bitten zum Tango um Mitternacht?“, singt er aus dem Schlager „Tanze mit mir in den Morgen“ von Gerhard Wendland und hebt vorsichtig den Arm, um seine Tanzpartnerin zu drehen. Er sieht noch genau vor sich, wie dem kleinen, rundlichen Mädchen im grauen Strickpullover – nennen wir sie Lisa – während der Stunde fast ihre schmalen Augen zugefallen sind. Sie gähnt ein paar Mal, als die Gruppe gemeinsam „Über den Wolken“ singt. Manche stampfen mit dem Fuß den Rhythmus des Liedes. Andere bewegen sich wie ein Pendel auf ihrem Sitz von rechts nach links. Der Junge mit der Gitarre in Pink begleitet Philipp Steinke rhythmisch auf seinem verstimmten Instrument. Aber Lisa gähnt mit müden Augen.
„Du bist aber müde. Ich glaube, da müssen wir etwas dagegen tun“, spricht Philipp Steinke sie darauf an. Lisa lächelt ertappt. Ihr rundes Gesicht und die kleine sichelförmige Falte an den Augenwinkeln lassen vermuten, dass Lisa das Down-Syndrom hat. Daraufhin steht er auf, legt seine Gitarre beiseite und zieht sie auf die Füße. An seinen Händen führt er sie langsam in die Mitte des Stuhlkreises. Etwas tapsig folgt sie ihm rhythmisch immer vom linken Fuß auf den rechten stapfend. Tap. Tap. Ob sie sich über das Tanzen freut? Sagen kann sie es nicht. Aber ihre Augen leuchten. Stille im Raum. Die beiden drehen sich im Kreis und tanzen. Ohne Musik. Nur die Schritte der beiden auf dem Boden.
Lisa stößt gurgelnde Schreie aus. Sie juchzt freudig. Bei der Drehung verliert sie den Rhythmus, sodass die beiden ihre Hände loslassen müssen. Mit einem Lächeln auf den Lippen schließt sie ihre Augen und schlingt ihre Arme um Philipp Steinkes Mitte. Die beiden bewegen sich weiter zusammen in ihrem Rhythmus. Der Junge mit der pinken Gitarre beginnt leise für die beiden eine Melodie zu summen. Mit einer letzten Umarmung endet der Tanz und Philipp Steinke begleitet sie zurück zu ihrem Platz. Er greift wieder zur Gitarre und singt: „Weine nicht wenn der Regen fällt, dam-dam, dam-dam.“
Heilung über Begegnung mit Musik
Ob seine Musik die Patienten heilen kann?
Die Musik sei kein „Zaubermittel“, betont Philipp Steinke. „Aber sie kann für den Patienten besondere Momente schaffen, die zum Heilungsprozess positiv beitragen. Für mich persönlich geht’s darum, den Menschen eine schöne Zeit zu machen und ihnen etwas Gutes zu tun in der Situation, in der sie gerade stecken.“