Ein Stück, das nicht nach Gulasch schmeckt

Kurt Weill? Klar, Dreigroschenoper. Allgemein bekannt. Street Scene? Nie davon gehört.
Ab dem 22. Dezember wird die in Deutschland selten aufgeführte Oper Street Scene von Kurt Weill am Theater Münster inszeniert. Wir haben mit dem Dramaturgen Ronny Scholz und dem musikalischen Leiter Stefan Veselka vorab über das Besondere am Stück, den amerikanischen Weill auf deutschen Spielplänen und die Aufführung in Münster gesprochen.

Foto: Rifail Ajdarpasic
Foto: Rifail Ajdarpasic

terzwerk: Herr Scholz, kurz vor Weihnachten feiert die Oper Street Scene von Kurt Weill am Theater Münster Premiere. Worum geht es in Street Scene überhaupt?

Scholz: Das Stück spielt 1944 in New York. Ganz explizit Manhattan. Wir befinden uns an einem Straßenzug, der mit allerhand Familien aus unterschiedlichen Herkunftsländern bewohnt ist. Alle finden in diesem Schmelztiegel, in diesem Melting Pot New York zusammen und sie alle haben einen Traum. Nämlich genau aus diesem Moloch, aus dieser einfachen Straße zu entkommen.

terzwerk: Und was steht im Fokus der Handlung?

Scholz: Das Leben ist mal gut mal schlecht, aber es gibt so eine bedrückende Grundstimmung. Und auf Basis dieser Atmosphäre wird eine ganz klassische Opernhandlung ausgetragen. Anhand der Beispielfamilie Maurrant – Vater, Mutter, zwei Kinder – gibt es einen tragischen Konflikt. Der Mutter wird unterstellt, dass sie ein Verhältnis mit dem Milchmann Sankey hat, über das das ganze Haus, die ganze Straße spricht. Am Ende kommt es zu der Situation, dass der Ehemann zeitiger nach Hause kommt, die Mutter wie auch immer erwischt – wir wissen es nicht, es findet alles im Haus statt – und sie erschießt. Sie verstirbt im Krankenhaus, der Vater wird festgenommen. Und die beiden Kinder Rose und Willie sind ohne Eltern.

terzwerk: Herr Veselka, Sie sind musikalischer Leiter des Stücks. Was darf der Zuschauer denn musikalisch von Street Scene erwarten?

Veselka: Das ist sehr komplex, weil ganz, ganz viele verschiedene Stilrichtungen und Stilarten gemischt werden. So wie man Weill kennt, gibt es natürlich eher nüchtern erzählende Strecken. Daneben gibt es ganz viel jazzige Elemente, Broadway Songs, Barbershop – Elemente, fast A Cappella Sachen – ganz, ganz toll –, die große Arie von Anna Maurrant, die fast wie ein moderner Puccini ist, würde ich sagen. Ganz, ganz großes Kino mit viel Emotion. Und dann gibt es noch so einfachere Duette, Terzette sozusagen, die eher komödiantisch anmuten. Also es ist sehr, sehr komplex, mit einem relativ großem Orchester, aber ohne außergewöhnliche Instrumente in dem Sinne. Er hat komischerweise keine Saxophone benutzt. Trotzdem hat er damit einen sehr spezifischen Klang erzeugt.

terzwerk: Hendrik Müller, der sich ja auch schon international einen ganz großen Namen erarbeitet hat, inszeniert das Stück. Was würden Sie sagen, ist denn das Besondere an seiner Inszenierung?

Scholz: Das Besondere an der Inszenierung ist, dass er das Stück so erzählt, wie der ursprüngliche Gedanke der Autoren ist. Aber am Ende entsteht auf der Bühne visuell etwas so Spannendes – was ich nicht verraten werde –, dass er das Stück damit komplett neu erzählt. Alle Protagonisten auf der Bühne haben diesen Traum des Entkommens. Ein Traum ist aber nicht greifbar. Er muss formuliert werden. Er braucht eine Art von Spiegel. Er braucht eine Art Entwicklung. Und wir schauen mit dem Team, das Hendrik mitgebracht hat, in die Seelen dieser Protagonisten.

terzwerk: Wird Street Scene etwa, wie z.B. West Side Story, als ein Milieustück inszeniert?

Scholz: Genau das will Hendrik nicht. Es soll unter anderem mit Mitteln der Videoinstallation ein Eindruck vermittelt werden, wie diese Menschen vielleicht gelebt haben könnten. Also es soll nicht nachgezeichnet oder klischeehaft bebildert werden. Die Aktualität des Stoffes müssen wir uns nicht vorhalten, weil diese Idee des flüchten Wollens, die Idee des Melting Pot da ist. Es wird sich aber nur in Generationen ändern, deswegen ist dieser Traum flüchtig. Und das will Hendrik erzählen.

Foto: Rifail Ajdarpasic
Foto: Rifail Ajdarpasic

terzwerk: Street Scene wird in Deutschland nur sehr selten aufgeführt. Nach der Uraufführung 1955 waren die Kritiken in Deutschland durchweg schlecht. Wie schätzen Sie beide trotzdem das Potential des Stücks ein?

Veselka: Also ich verstehe das mit den schlechten Kritiken nicht. Ich habe sie nicht gelesen. Vielleicht muss man es im Kontext der Zeit sehen. Ich finde, es ist ein unglaublich spannendes, sehr aktuelles Stück, aufgrund der ganzen Flüchtlingsdebatten und so weiter. Ich glaube, vielleicht hatten die Zuhörer von damals ein Problem mit der Mischung der verschiedenen Stile, weil sie das Stück nicht in eine Box stecken und sagen konnten: „Ach, das ist so ein Stück!“ Dann tendiert man oft dazu zu sagen: „Ich verstehe nicht, wo das hingehört.“ Aber das ist ja eigentlich Quatsch, denn warum muss man es irgendwo einsortieren? Es ist einfach ein komplexes, fantastisches, verrücktes Stück, und ich denke, das wird sehr toll ankommen. Das ist auch meine Hoffnung, weil es zu Unrecht zu selten gespielt wird. Es ist natürlich ein riesen Unterfangen für jedes Haus Street Scene zu spielen, weil es mit mindestens 30 Solisten so groß besetzt ist. Das ist einfach eine logistische Meisterleistung.

Scholz: Generell muss man sagen, dass der amerikanische Weill es bis heute in Europa schwer hat. Wenn wir an Weill denken, dann denken wir an die Dreigroschenoper, wir denken an Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, wir denken ganz selten vielleicht mal an ein Violinkonzert mit Blasorchester, an tolle Songs, Speak Low, also Ute Lemper … Schaut man in die Spielpläne, sieht man den amerikanischen Weill immer wieder periodenhaft auftauchen. In dieser Spielzeit eben Street Scene in Münster, die Staatsoper Dresden macht One Touch of Venus. Es gibt Tendenzen, aber sowas wie die Dreigroschenoper – zu Recht natürlich – kriegt man nicht tot.

terzwerk: Ist ja irgendwo aus Sicht des Theaters nachvollziehbar, sich für das erfolgreichere Stück zu bemühen  …

Scholz: … ja, muss man aber nicht, weil ich glaube, dass das Stück heute deshalb so gut ist, weil wir auch kompositorisch an dem Punkt angekommen sind, wo alles möglich ist. Wir haben keine Richtlinien mehr. Wir haben kein: „Wir müssen nur noch so komponieren!“ Das Stück ist sehr gutes Musiktheater. Du hast von allen Mitteln, von allen Ideen etwas drin, ohne dass es nach Gulasch schmeckt, sondern es wird durch einen großen Geist zusammengehalten. Und auch die Genese des Stückes. Weill war als Vertreter des melodramatischen Ansatzes immer für die Verwebung des Stückes. Es steckt viel mehr Sinfonik drin, als man auf den ersten Blick nur beim Hören erlebt. Das zu entdecken, ist ein großes Geschenk. Deswegen gehört dieser amerikanische Weill mit zehn kleineren und größeren Werken, die er dort geschrieben hat, unbedingt in unsere Spielpläne, damit es farbiger wird und dieser Komponist – wir reden jetzt fast 70 Jahre nach seinem Tod – nicht nur auf zwei, drei Werke reduziert wird. Kurt Weill, also da haben wir noch viel zu tun!

terzwerk: Sie haben die Aktualität des Stücks schon angesprochen. Was soll denn die Botschaft von der Münsteraner Street-Scene-Inszenierung für den Zuschauer sein?

Scholz: Darüber haben wir vorgestern erst gesprochen, auf dem Weg nach Hause. An der Bushaltestelle der Linie R64, der Nachtbus in Münster (lacht). Hendrik hat uns das Ende verraten, wie er das Stück inszenieren möchte. Das Stück ist zyklisch angelegt. Es sind drei Damen, die vor dem Hauseingang sitzen und sagen: „Es ist viel zu heiß, es ist schwül, es ist so matt und wir wollen raus aus diesem Loch!“ Und 24 Stunden später nach dem Mord, nach allen dramatischen Ereignissen, die dort passiert sind, sitzen wieder drei Frauen und sagen: „Oh ist das heiß hier!“ Es gibt keine Entrinnen, also es wird zyklisch weiter gehen. Und dann hat Stefan zu Recht gesagt: „Oh das ist aber ein ganz schöner Kloß im Hals, dass es keine Utopie in dem Augenblick gibt!“

terzwerk: Also weiß man am Ende nicht, was aus den Kindern Rose und Willie wird?

Scholz: Das müssen wir als Zuhörer, Zuschauer weiterdenken. Aber das Tolle in dem Stück ist, dass die Utopien im Stück selbst liegen. „Wouldn’t you like to be on broadway?“ – wo träumt man sich hin? Wo möchte man sein? Die Träume finden im Stück selber statt. Also es ist kein melancholisches Endzeitstück, nach dem man deprimiert nach Hause geht, sondern diese traumhaften Sehnsüchte, die aus dem Stück herauswachsen, die versüßen einem hoffnungsvoll das Ende. Es hat natürlich auch etwas von …

Veselka: … das Leben geht weiter.

Scholz: Das Leben geht weiter, ja. Und ob jeder einzelne das schafft, das aus sich heraus zu verändern, diese Frage stellt das Stück. Wie viel Hilfe braucht man? Wie viel Mut braucht man? Wie viel Gesellschaft braucht man? Wie viel Zusammenhalt braucht man? Ein gutes Stück stellt Fragen. Es gibt keine Antworten. Und das ist ein gutes Stück.

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