Der Blickwechsel der Kölner Philharmonie verbindet Musik mit anderen Künsten und Disziplinen. Bei „Ein russischer Abend“ erlebt das Publikum Literatur, Musik und Essen aus Russland.
Die Wand wird durch eine goldene Ornamenttapete geschmückt, Kronleuchter hängen von der Decke und ein Grammophon mit goldenem Trichter steht in der Ecke. Im Restaurant Odessa in der Kölner Südstadt wurde für das Blickwechsel-Publikum gedeckt, das nicht nur russisches Essen, sondern auch Literatur und Musik aus Russland erwartet. „Ein Dreiklang sozusagen“, leitet der Musikwissenschaftler und Musikjournalist Bjørn Woll den Abend ein. Er stimmt auf den musikalischen Teil des Abends ein, der mit einem Konzert des Pianisten Mikhail Pletnev und Sergej Rachmaninows Klaviermusik endet. Vervollständigt wird das Programm durch eine Lesung von Thomas Balou Martin, der aus Fjodor Dostojewskis „Der Spieler“ liest.
Grenzüberschreitung und Maßlosigkeit
Fjodor Dostojewski, ein Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, sei als Grenzüberschreiter betitelt worden, sagt Bjørn Woll und stellt so eine Verbindung zu der Musik Sergej Rachmaninows her. Bei dem Musiker und Komponisten finde sich das Maßlose an vielen Stellen seiner Kompositionen. So auch in seinen Etudes-tableaux op. 39, von denen Nr. 7 mit Hilfe einer kleinen Box vorgespielt wird. Das soll auf das Konzert in der Philharmonie vorbereiten, wo das Stück live gespielt wird. Zu hören ist düstere Musik mit tragisch-fatalistischem Charakter, der sich aus den Selbstzweifeln und Schicksalsschlägen Rachmaninows erklären lassen kann.
Genau das verbindet Rachmaninow mit dem Roman „Der Spieler“ von Fjodor Dostojweski, aus dem der Schauspieler Thomas Balou Martin ausgewählte Szenen vorstellt. In der Geschichte geht es um eine fiktive Stadt namens Roulettenburg und eine Gruppe von Menschen, die durch ihre Spielsucht kurz vor dem finanziellen Ruin stehen. Alle hoffen nun auf das Ableben der reichen Tante Antonida Wassiljewna, die aber sehr munter in Roulettenburg auftaucht. Thomas Balou Martin liest die tragikomische Szene der Ankunft der Erbtante vor, die nun selbst mit dem Roulettespielen beginnen möchte. Fast humoristisch und mit einer hohen, zitternden Stimme imitiert er die Tante.
Unterbrochen wird die Szene durch den Geruch von roter Beete. Nachdem vor allem der Hörsinn stimuliert wurde, folgt mit der Vorspeise nun die Stimulation des Geschmacksinns. Es gibt Borschtsch, eine traditionelle russische Suppe, die mit roter Beete zubereitet wird.
Rauschhaftigkeit bei Dostojewski und Rachmaninow
Nach der kurzen Essenspause setzt Thomas Balou Martin die „Tantenszene“ fort: Antonida Wassilijewna berichtet Alexej Iwanowitsch, dem Ich-Erzähler, von ihrem Gewinn und möchte ihm Geld leihen. Denn er selbst befindet sich auch im Spielrausch und im Selbstbetrug. Rauschhaftigkeit habe Rachmaninow als Kind durch seinen Vater erfahren, der Geld und sämtliche Familiengüter verspielt hat. Dieses und andere Traumata führe zu der Musik, die er geschrieben hat, erklärt Bjørn Woll im zweiten Musikteil.
1897 fiel Rachmaninows 1. Sinfonie beim Publikum durch und führte ihn in eine schwere Schaffenskrise. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs zieht der Komponist mit seiner Familie erst auf das Landgut seiner Frau, dann flüchten sie in die USA. In den USA war Rachminow zwar ein gefeierter Klaviervirtuose, aber ihm fehlte seine Heimat Russland. 1930 versuchte er ein Replik des Landguts seiner Frau auf ein Grundstück in der Schweiz zu bauen, aber mit Beginn des zweiten Weltkriegs ging er endgültig in die USA zurück. Verbittert und entwurzelt ist Rachmaninow in den USA gestorben, erzählt Bjørn Woll. Verbittert ist auch das Ende von Dostojewskis „Der Spieler“. Alexej Iwanowitsch verspielt nicht nur sein Geld, sondern auch sein Liebesglück und zieht von Casino zu Casino, um weiter zu spielen.
Vom Restaurant in den Konzertsaal
Zum Schluss und zur Stärkung vor dem Konzert gibt es die Hauptspeise. Es sind Blinis, eine Art russischer Pfannkuchen, gefüllt mit Spinat und Käse. Danach wechselt das Blickwechsel-Publikum den Ort und trifft in der Kölner Philharmonie auf weitere Zuhörer. Wird man mit der literarischen und kulinarischen Vorbereitung das Konzert jetzt anders hören?
Mikhail Pletnev spielt in diesem Konzert ausschließlich Klaviermusik von Rachmaninow. Noch mit Rote Beete- und Spinatgeschmack auf der Zunge hört das Publikum dem zarten Fingerspiel Pletnevs aufmerksam zu. Die Schicksalsschläge Rachmaninows und die tragische Erzählung „Der Spieler“ schwingen dabei mit. Hat Rachmaninow diese Musik wirklich in Verzweiflung und Sehnsucht nach Idylle und Heimat geschrieben?
Das Konzert beginnt mit dem Prélude cis-Moll op. 3, Nr. 2, auf dem der Ruhm Rachmaninows beruht. Darin spiegeln sich die Worte der Einführung Bjørn Wolls wieder. Hier geht es um dramatische und leidenschaftliche Gefühle, um eine Art russischer Melancholie wie sie Rachmaninow gespürt haben mag. Pletnev führt fast chronologisch durch die Klaviermusik Rachmaninows. Das Ende des Abends – wenn man von den drei Zugaben absieht – bildet Rachmaninows Sonate Nr. 1 d-Moll op. 28, ein Werk voller technischer Herausforderungen. Pletnev spielt berauschend zart und kräftig.
Dem Blickwechsel-Publikum öffnet sich an diesem Abend nicht nur die Welt der russischen Musik, sondern auch die der Literatur. Das Essen dient der Verbindung dieser Welten. Durch die ausführliche Einführung in die beiden Künste, kann das Publikum dem Konzert aufmerksam folgen und selbst Verbindungen zwischen den Disziplinen herstellen. Dem Zuschauer bietet sich dadurch ein intensives Erlebnis.