„Alles Lebendige bildet eine Atmosphäre um sich her.“
(Johann Wolfgang von Goethe)
Sofort ploppt der letzte Guardians of the Galaxy Film mit Starbesetzung aus Hollywood vor dem inneren Auge auf, in dem ein Team, bestehend aus Fantasiewesen, die Galaxie retten will.
…Bitte nicht. Das Phänomen Atmosphäre, das Goethe nämlich beschreibt, bezieht sich nicht auf das Universum, in dem irgendwo unser Planet Erde segelt. Goethe sprach von Aura. Die Göttin der Morgenbrise in der griechischen Mythologie, aber laut Yogis und Esoterikern ein Lichtkörper, der jeden von uns umgibt und in verschiedene Schichten, Koshas, aufgeteilt ist. Umso heller die Aura leuchtet, umso stärker wird ein Mensch von seinem Umfeld positiv und anziehender wahrgenommen. Ein nicht greifbares Phänomen, das nun Komponisten des 21. Jahrhunderts versuchen mit ihrer Musik nachzubilden. Wie oft ist nicht die Rede von atmosphärischer Musik?
Besonders der Trend in der postmodernen Chormusik geht immer mehr in die Richtung von Klangflächen deckendem Chorsound. Allein mit der Stimme beseelte Klangteppiche weben, ist das Mantra von Eric Whitacre, Ola Gjeilo, Ēriks Ešenvalds, Paul Mealor oder dem schon verstorbenen Cyrillus Kreek gewesen. Wieso aber gefühlsgetränkte Atmosphärenmusik, die mit ihrem spirituellen Klang tief unter die Haut geht, sich von der Realität abwendet und in vokale Phantasiewelten abtaucht? Weil wir gerade in Zeiten, in denen politische Zukunftsängste nicht unbegründet scheinen, innerlich aufgewühlt sind. Ein wenig zu romantisch also, ein wenig zu esoterisch und realitätsfern mag die Musikauswahl sein. Und doch gerade richtig, um sich dem weltpolitischen Negativismus zu entziehen und tief durchzuatmen. Ein Kurztrip durch ausgewählte atmosphärische Chorwerke, die einen anderen Zugang zu Vokalmusik verspechen. Warm anziehen und dem nordischen Polarlichterklang lauschen.
Dissonante Clusterschichtungen stehen für den Kompositionsstil des norwegischen Komponisten Ola Gjeilo. Selbsterklärend, weshalb das Werk den Titel „Spheres“ trägt. Passend dazu ein wenig tonales Sternenfunkeln. Ähnlich wie Gjeilo spielt der lettische Zeitgenosse Ēriks Ešenvalds mit anhaltenden Klangflächen, setzt aber vermehrt den Fokus auch auf solistische Stimmen in seiner Komposition „Stars“. Der Brite Paul Mealor vertonte mit „Now Sleep The Crimson Petal“ das Gedicht des Dichterfürsten Alfred Tennyson, der zu Regierungszeiten Königin Victorias lebte. Erinnernd an ein Gute-Nacht-Lied lebt diese Vertonung von ihrem lyrischen Basskolorit.
Dass Gjeilo dem in den Polargebieten vorkommende Naturphänomen ein Werk widmet, symbolisiert die Verbundenheit zu seinem Heimatland Norwegen. Ihm gelingt es, gemeinsam mit dem Phoenix Choral 2012 auf seiner CD „Nothern Lights“ klangmalerisch die Polarlichter einzufangen. Passend also zum Mixtape-Cover darf auch dieses eindrucksvolle Stück nicht fehlen. Auch der relativ unbekannte Neoromantiker Cyrillus Kreek aus Lettland identifizierte sich mit dem nationalen Stil der lettischen Volksliedweisen und komponierte ganz im nordischen Klangideal. „Mu Jumal! Mu Jumal!“ (Mein Gott! Mein Gott!) besticht durch seine meditative Schlichtheit und nicht selten ist die Rede von neoklassischen Farben in Kreeks Werken, die sich ebenfalls durch einen sphärischen Sound auszeichnen.
Die Antiphon „Ubi Caritas“ wurde nicht ohne Grund durch Taizé-Vertonungen berühmt und auch von anderen Komponisten aufgegriffen. Die Aussage „Wo Güte und Liebe wahrhaftig sind“ fesselte auch Paul Mealor, der daraus ein Atmosphärenwerk für Chorgesang zauberte. Die zarte Kinderstimme verschmilzt im “Goldenen Licht” („Lux Aurumque“) Eric Whitacres, der wohl zu den berühmtesten zeitgenössischen Komponisten zählt. Wie seine nordischen Kollegen arbeitet auch er mit flächendeckenden Akkordschichtungen und gefühlsbetonten Melodiephrasen. Besonders Whitacres Kompositionen schreien immer verdächtig nach Filmmusikpotential. Zusammen mit Hans Zimmer vertonte Whitacre die mystische Meerjungfrauenszene des Disneyfilms Fluch der Karibik 4.
Der Ausklang des Mixtapes endet nicht allzu melancholisch. Für „Vuelie“ ließ sich der kanadische Filmkomponist Christophe Becks von norwegischer Folklore inspirieren und untermalte einen der wohl erfolgreichsten Disneyfilme „Die Eiskönigin – Völlig Unverfroren“ mit seinen Kompositionen.
Vorsicht! An dieser Stelle folgt nun Vokalmusik mit Gefühlsausbruchpotential. Nicht zu genießen in emotionaler Instabilität. Melancholie vorprogrammiert.