Cogito ergo sum. Diesem Satz von Descartes geht das Grübeln des Menschen über die eigene Existenz voraus. Woran kann ich glauben? Was ist Wirklichkeit, was Illusion? Gibt es unvergängliche Regeln? Descartes Antwort auf diese Fragen des Lebens lautet: Cogito – das eigene Denken. „Da es ja immer noch ich bin, der zweifelt, kann ich an diesem Ich, selbst wenn es träumt oder phantasiert, selber nicht mehr zweifeln.“ Ein schöner Beweis für das eigene Sein.
Wenn wir uns mit dem Leben Ferruccio Busonis beschäftigen, erscheint diese philosophische Erkenntnis geradezu als Leitbild. Busoni zweifelt. An den Gesetzen der musikalischen Welt, an der Zukunft der Musik, an seiner eigenen Arbeit und an der seiner Mitmenschen. Stets sucht er nach dem Unbekannten, wie allein seine Wohnorte zeigen: geboren 1866 in der Nähe von Florenz, Klavier- und Kompositionsstudien in Leipzig, Wien, Graz, Bologna und Berlin, Lehrtätigkeiten an Konservatorien in Helsinki, Moskau, Boston, New York. Ähnlich endlos erscheint die Anzahl seiner Berufe, denn er beginnt als Klaviervirtuose, forscht später unter anderem über Johann Sebastian Bach, schreibt ästhetische Abhandlungen, wird Dirigent und schließlich Avantgarde-Komponist. Seine Kompositionen klingen dabei mal nach Mozart, mal nach Bach, mal nach der atonalen Musik der jungen Moderne. Diese Vielfalt überfordert uns als Betrachter beinahe, wären da nicht die unzähligen überlieferten Schriften Busonis. In Briefen, Büchern, Vorworten und Reden hat er uns in allen Lebensabschnitten seine Gedanken hinterlassen. Der Busoni, der dort zu uns spricht, bleibt sich treu: Ein erbarmungslos krittelnder, herrlich verkopfter Musikphilosoph.
Die Karriere des Überfliegers Busoni beginnt früh. Ab seinem siebten Lebensjahr reist er als Wunderkind am Klavier durch Europa, erste Kompositionen schreibt er mit sechs. Das Stadium einfacher Versuche überschreitet er rasch, sein mit 15 Jahren komponiertes Klarinettenquintett etwa beeindruckt nicht nur handwerklich. Es ist auch von einem Ernst, von einer Melancholie durchzogen, die man einem so jungen Komponisten kaum zugetraut hätte. In der Öffentlichkeit wird er jedoch zunächst als Klaviervirtuose wahrgenommen. Ein Mailänder Kritiker schreibt: “Sein Auftreten interessierte vor allem die Damen, die offenbar Gefallen fanden an seinem Nazarenergesicht, dem lang flutenden Haar, den begeisterten Augen.“
Doch als Pianist verehrt zu werden, das genügt Ferruccio Busoni nicht, er will auch als Komponist Musikgeschichte schreiben. Interessanterweise sucht er die Inspiration für die Zukunft in der Vergangenheit. Intensiv beschäftigt er sich mit den Kompositionen alter Meister wie Mozart und Beethoven und vor allem mit seinem größten Vorbild Johann Sebastian Bach. Zum einen bearbeitet er Werke von Bach für andere Instrumentationen, etwa in seiner Transkription von Bachs Chaconne für Klavier. In späteren Werken verbindet er die Ästhetik Bachs mit der Tonsprache der Moderne, was zu hochvirtuosen und kaum mehr zu greifenden Konstrukten wie seiner Fantasia Contrappuntistica führt, in der er kunstvoll Motive aus Bachs Kunst der Fuge variiert. Es klingt ein wenig, als hätte man Bachs Fuge zusammen mit einem Schwung Rachmaninoff und Schönberg in eine Kiste gesteckt, alles kräftig durchgeschüttelt und den Inhalt dann in die Partitur gegossen.
Inspiriert vom Zusammenspiel verschiedener Melodien in Bachs Werken entwickelt Busoni die Idee von einer Harmonik, die sich keinem starren Regelwerk unterordnet, sondern aus der Verschmelzung verschiedener Melodien entsteht. Musikalisches Ergebnis dieser Überlegungen ist sein Orchesterwerk Berceuse élégiaque, das Busoni im Gedenken an seine verstorbene Mutter geschrieben hat. Über tief summenden Bässen breiten verschiedene Instrumentengruppen skurril verzogene Melodien aus, verschränken und überlagern sich. Ähnlich wie Schönberg oder Skrjabin rüttelte Busoni an den Grundfesten der klassischen Harmonielehre – und brachte sie schließlich in seiner Sonatina Seconda zum Einsturz. Das Klavierstück ist laut Busoni „senza tonalita“, also „ohne Tonalität“ geschrieben. Es gibt in der ganzen Partitur keinerlei Taktstriche, der Vortrag soll improvisationsartig und schwebend klingen.
Als Busoni am 27. Juli 1924 in Berlin stirbt, befindet sich sein letztes großes Werk gerade im Endstadium: die Oper „Doktor Faustus“. Hier fließen alle bisherigen Klänge Busonis zusammen. Ständig tauchen musikalische Zitate auf, mal aus Busonis eigenen Werken, mal von seinen Vorbildern, wenn etwa das B-A-C-H-Motiv aus Bachs “Kunst der Fuge” zitiert wird. Anders als in Goethes Faust beschwört in Busonis Oper der alte Wissenschaftler selbst die Geister der Hölle. Die Wahl fällt auf Mephistopheles, der bezeugt so schnell zu sein wie „eines Menschen Gedanken“. Klar, dass das einem Intellektuellen wie Busoni gefällt, der sich selbst folgendermaßen charakterisiert hat: „Ein schwacher Mensch, doch ein zäher Kämpfer, von Zweifeln hin und her gehetzt; im Denken ein Meister, ein Sklave der Triebe, allen Dingen auf den Grund gehend, doch keine Antwort findend.“