Manche Familien sind die Hölle. Und die schlechten Gene, die Gewohnheiten und Sitten kleben an den Nachfahren wie schwarzes Pech. Bei Familie Rougon-Macquart kommt keiner ungeschoren davon: Alkoholismus, Pädophilie, Inzest, Wahnsinn und andere Geisteskrankheiten vergiften den Stammbaum und zerren an der Existenz und dem Ruf der Familienmitglieder.
Émile Zola, französischer Journalist und Romanautor, erfand Ende des 19. Jahrhunderts die fiktive Familie für seinen 20-bändigen Romanzyklus “Les Rougon-Macquart – Natur- und Sozialgeschichte einer Familie im Zweiten Kaiserreich”. Jetzt liefert die Saga den Stoff für ein Dreijahres-Theaterprojekt der Ruhrtriennale, das gestern mit dem ersten Teil “Liebe” im Landschaftspark Nord in Duisburg startete.
Zu erleben war ein schockierendes, exzellent gespieltes Doppelfamiliendesaster: Auf der einen Seite die Rougons aus der wohlhabenden Bürgerschicht, auf der anderen die Macquarts aus der Gosse – verwandt durch die alkohol- und geisteskranke Urmutter Adélaide Rougon, die sich nach dem Tod ihres Mannes mit dem Schmuggler und Trinker Macquart einließ. Mittlerweile ist “Dide” über 100 Jahre alt und in Luk Percevals Inszenierung nur noch durch einen klapprigen Rollstuhl anwesend. Trotzdem kämpft man auf allen Seiten mit ihrem Erbe.
Schwiegertochter Félicité (Barbara Nüsse) möchte den guten Ruf der Familie wahren und die dunklen Seiten vergessen. Ihr Sohn aber, Doktor Pascal (Stephan Bissmeier), nutzt die Familie als Versuchsfeld: “Gibt es einen physischen und intellektuellen Fortschritt?”
Der wissensdurstige Arzt möchte etwas finden, aus dem er Hoffnung schöpfen kann. Er studiert und dokumentiert den Stammbaum seiner Familie – und befördert so die Geschichte von Gervaise Macquard (Gabriela Maria Schmeide), wie Pascal Enkelin von “Dide”, auf die Bühne. Ihr Leben ist ein einziges Trauerspiel. “Zwischen Schlachthaus und Spital” versucht sie sich als Wäscherin aus der Armut zu befreien – mit drei Kindern, alle mehr oder weniger übergeschnappt, und drei männlichen Versagern an der Backe. Am Ende bleibt ihr nur noch der Alkohol.
Auch der gute Doktor bleibt nicht ausschließlich Beobachter, sondern erkennt, dass auch er Teil der Familie ist. Ein Liebesverhältnis zu seiner Nichte Clotilde (Marie Jung), die er mit Schmuck und Mieder überhäuft, stürzt ihn in den finanziellen Ruin und – nach Beenden der Beziehung – in die Verzweiflung. Die Liebe und die Leidenschaft, was sind das hier nur für fürchterliche Mächte!
Das Geschehen auf der Bühne packt am Kragen, zieht in der Brust, beschäftigt. Familie hat jeder, kennt jeder, liebt jeder, hasst jeder. Die Familie ist immer da. Was, wenn man das gar nicht möchte? Kann man die Familiengeschichte beeinflussen?
Das Stück ist zum einen so spannend, weil man sich mit dem Stoff von Zola und den Fragen, die er aufwirft, gut identifizieren kann. Aber auch die Bearbeitung von Luk Perceval ist bemerkenswert: Stetig finden Perspektivwechsel in der Erzählung statt. Teilweise hat Perceval die Romanvorlage zu Dialogen verarbeitet, teilweise den Text beibehalten. Also sprechen die Schauspieler manchmal im Dialog, dann aber kommentieren oder erzählen sie – über ihre Situation oder über die anderen Figuren. Eine interessante Mischform entsteht. Vor allem wenn die Rougons über die Macquards berichten oder die humpelnde Gervaise der Haushälterin von Doktor Pascal ihre Gefühle beschreibt und sich zu rechtfertigen versucht. Im Grunde verlaufen ihre Geschichten unabhängig voneinander, aber passieren in dieser Inszenierung immer unter Anwesenheit der anderen Familie, sodass die Verwandtschaft stets spürbar bleibt. Und so verschränken sich die Geschichten im Familienmeer – immer wieder tanzen die Mitglieder auf den Wellen von Liebe und Leidenschaft, dann gehen sie unter. Ob es wohl jemals einem Rougon-Macquart gelingen wird, sich aus der düsteren Ahnengeschichte zu befreien?