Vitaly Polonsky hat mit seinem Chor MusicAeterna von der Staatsoper Perm ein musikalisches Programm ausgearbeitet, das die Chortraditionen der Renaissance denen der Moderne gegenüberstellt. Am 17. August singt der von Teodor Currentzis gegründete Chor in der Dortmunder Zeche Zollern Stücke von Thomas Tallis und Henry Purcell neben Kompositionen von Alfred Schnittke und György Ligeti. Eine Konzerteinführung.
„Klangozean“ ist das Wort, mit dem die Motette „Spem in alium“ von Thomas Tallis auf der Ruhr-Triennale-Website beschrieben wird – ein vager Versuch, und ein dennoch zumindest heutzutage treffender Begriff. Der Komponist schrieb das Werk um 1570, etwa 15 Jahre vor seinem Tod, für acht fünfstimmige Chorgruppen, sprich: für insgesamt 40 voneinander unabhängige Stimmen. Beim ersten Hören kann das Werk klingen wie der übermütige Versuch, eine Vielzahl an Ideen in möglichst kurzer Zeit unterzubringen, musikalische, melodische, rhythmisch-artikulatorische und textliche – am besten ohne dabei vollgestopft zu wirken.
Wohl rettungslos verloren ist derjenige, der mit seinen heutigen Hörgewohnheiten versucht, da Strukturen und einzelne Stimmführungen herauszuhören, sind doch die Hörgewohnheiten von der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts geprägt, die völlig anders geordnet und gedacht ist. Selbst mit vorliegender Partitur ist das Folgen und Verstehen der Stimmführungen fast unmöglich. Tatsächlich schienen Thomas Tallis‘ Zeitgenossen die Musik anders zu hören, isorhythmische und artikulatorische Strukturen zu erkennen, Musik eher horizontal als vertikal wahrzunehmen, indem sie nicht harmonisch, sondern melodisch dachten.
Fern, schwebend, fantastisch
Für unsere heutigen Ohren ist das kaum nachvollziehbar – und das lässt diese Musik rätselhaft, schwebend, fern und irgendwie fantastisch wirken. Was bleibt, ist tatsächlich der Eindruck eines „Klangozeans“, der sich über den Zuhörer ergießt, der sich mittendrin, übergossen, umflutet wiederfindet, darin schwimmt, darin treibt. Eine echte Herausforderung zudem für den Chor, dessen Sänger nach Tallis‘ Idee hufeisenförmig aufgestellt in einem großen Raum stehen, oft ohne Sichtkontakt zueinander, oft alleine in der eigenen Stimme. Ein Grund, weshalb das Stück sehr selten aufgeführt wird.
So ungewohnt diese Musik für heutige Ohren klingt, so bedeutend war sie jedoch für zeitgenössische Chormusik – und das wird das Konzert am 17. August in der Maschinenhalle in der Dortmunder Zeche Zollern zeigen: Chorleiter Vitaly Polonsky hat mit dem von Teodor Currentzis gegründeten Chor „MusicAeterna“ ein Programm erarbeitet, das die Kompositionstradition der Renaissance in England derjenigen 400 bis 500 Jahre später in Russland und Österreich-Ungarn gegenüberstellt. Tallis‘ fast zehnminütiger „Klangozean“ steht zu Beginn des Programms, es folgen drei kurze Stücke von Henry Purcell, komponiert etwa 100 Jahre danach. Später dann folgt Alfred Schnittkes „Three Sacred Hymns“ und Teile aus seinem teilweise 16-stimmigen „Choir Concerto“.
“Kosmische Dinge”
Ziel der Konzertdramaturgie ist an diesem Abend György Ligetis „Lux Aeterna“. Stanley Kubrick arbeitete das Stück im Jahr 1968 in seinen Film “Odyssee im Weltraum” ein, zwar ohne den Komponisten zu fragen und zu bezahlen, doch aus Ligetis Sicht war die Verwendung dennoch eine hervorragende Idee. Zwar habe er beim Komponieren nicht “an kosmische Dinge” gedacht, wie er in einem Welt-Interview im Jahr 2001 berichtet, dennoch: “Meine Musik in Kubricks Auswahl passt ideal zu diesen Weltraum- und Geschwindigkeitsfantasien”. Das Werk für 16-stimmigen Chor a Cappella fordert den Zuschauer wieder auf völlig anderer Hör-Ebene.
Es zeichnet sich aus durch einen steten Wechsel von eindeutig ‘klaren’ und ‘harmonischen’ Klangkomplexen mit eher oder stark getrübten Klangflächen, es ist ein Ineinanderschieben von Clustern, aus denen jeweils neue harmonische Flächen herauswachsen, die auseinander- und wieder zusammenwachsen. Ligeti begriff diese Entwicklung nach eigener Aussage als Resultat von in sich verwobener und verwickelter strenger Kontrapunktik, die sich auf geschichtlich gewachsene satztechnisch-strukturelle Grundlagen bezieht – Grundlagen, die zur Zeit Thomas Tallis‘ entstanden.
Unter diesen Vorzeichen wirkt das Konzertkonzept „Spem in Alium“ wie eine Art Selbstversuchs-Lehrstück: Die frühesten Anfänge der chorischen Kontrapunktik, die in einem Monumentalwerk wie „Spem in Alium“ in abenteuerlich vielen Facetten ausgereizt wird, hin zu ihrer ausgedehnten Extreme in sich entwickelnden Klangclustern. Vermutlich wird das Konzert nicht leicht zu hören sein, die ausgewählten Werke fordern den Zuhörer stark heraus. Ein besonderes Konzerterlebnis haben wird derjenige, der es schafft, die Überforderung zuzulassen, die diese hochkonzentrierte Musik schnell hervorrufen kann – und in den “Klangozeanen” zu treiben.