Wie klingt eine Oper, die für einen Staatsbesuch im 17. Jahrhundert komponiert wurde? So wie Francesca Caccinis La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina („Die Befreiung des Ruggiero von Alcinas Insel“). Als Hofkomponistin der Medici wurde sie gemeinsam mit dem Dichter Ferdinando Saracinelli beauftragt, eine Komposition für den Staatsbesuch des polnischen Kronprinzen in Florenz anzufertigen. Heraus kam eine Ballettoper aus einem Prolog und drei Szenen, die 1625 in Florenz uraufgeführt und einige Jahre später auch in Polen aufgeführt wurde. Fast 400 Jahre später präsentiert das auf polyphone Renaissancemusik spezialisierte Huelgas Ensemble die Oper in einer Bearbeitung von Paul Van Nevel und veröffentlicht die Liveaufnahme von 2016 auf CD.
Paul Van Nevel (Foto: © Melle Meivogel)
Die Handlung ist schnell erzählt: Ruggiero wurde von der Zauberin Alcina verführt und befindet sich seitdem auf ihrer Insel. Daraufhin schickt Bradamante, Ruggieros Geliebte, die gute Zauberin Melissa aus, um ihn zurückzuholen. Melissa verkleidet sich als Ruggieros väterlicher Freund Atlante und schafft es, den Bann zu lösen.
In dieser Oper fallen vor allem die starken Frauenfiguren ins Auge. Ruggiero reagiert mehr, als dass er agiert. Eine Hommage an die Medici Herrscherinnen, denn Maria Magdalena von Österreich hatte seit dem Tod ihres Mannes gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter die kommissarische Regentschaft übernommen und war deshalb die Auftraggeberin von Francesca Caccini. Auch die Einbindung des Flussgottes im Prolog ist ein weiterer Bezug zur politischen Lage: Er ist der Gott der Weichsel, dem längsten Fluss Polens und tritt deshalb zu Ehren des Kronprinzen auf. Prolog und Schlussmadrigal der Oper richten sich direkt an die versammelte Festgesellschaft. Die erzählte Geschichte und die daraus resultierende Lektion für‘s Leben wird dem Publikum gewissermaßen in mundgerechten Häppchen serviert.
Musikalisch steht La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina ebenso wie Claudio Monteverdis Favola in Musica L’Orfeo an der Schwelle zwischen kompliziertem mehrstimmigem Gesang und Monodie. Schon Francesca Caccinis Vater, der Komponist Giulio Caccini, war mit der Florentiner Camerata an der Entwicklung des neuen, einstimmigen Gesangsstils beteiligt. Charakteristisch für diesen Stil ist die nach antikem Vorbild gestaltete, vom gesprochenen Wort und Affekten ausgehende Gesangsstimme. Francesca Caccini komponierte vor allem die Stimmen der drei Hauptrollen im rezitativischen Stil, die sich mit kleineren solistischen Partien und mehrstimmigen Chören abwechseln. Begleitet werden die rezitativischen Passagen traditionell mit einem improvisierten Generalbass, dessen Instrumentierung in der Partitur nicht angegeben ist. In seiner Bearbeitung ordnet Paul Van Nevel jedem der Charaktere bestimmte Instrumente zu: Die Zauberin Melissa wird beispielsweise mit Lira da gamba, Virginal und Bassinstrumenten begleitet.
Die musikalische Qualität der Einspielung ist sehr hoch. Michaela Riener macht mit ihrer frischen, beweglichen Stimme Alcinas faszinierende Ausstrahlung ebenso hörbar, wie deren intensive Bitten an Ruggiero, sie nicht zu verlassen. Achim Schulz singt den Ruggiero mit zärtlichen, bei seinem Liebesgeständnis an Alcina schon fast schüchternen Nuancen und sehr ausdifferenzierter Dynamik. Die Helligkeit der beiden Stimmen ergänzt sich sehr gut, vor allem im Liebesduett der ersten Szene. Sabine Lutzenberger ist in der Rolle der Melissa jederzeit Herrin der Lage: Sie singt mit weicher, gerade geführter Stimme, die eine angenehme Ruhe ausstrahlt. Die vielen kleineren Partien sind mit Mitgliedern des Chores besetzt, deren Stimmen sich sehr gut in das Gesamtbild einfügen und dabei individuelle Charakterportaits kreieren. Im Kollektiv übernimmt der Chor von den melancholischen Klagen verzauberter Pflanzen bis zu den wilden Rufen der Monster die unterschiedlichsten Rollen und arbeitet deren Charakteristika fein heraus.
Abwechselnd mit den Gesangspassagen enthält La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina instrumentale Zwischenspiele (Sinfonia) und Tänze, die auf das Zeremoniell des Staatsbesuchs abgestimmt wurden. Während die Sinfonia von Francesca Caccini komponiert wurden, fehlen die Noten für die Tanzsätze. Vermutlich wurden nie spezielle Tänze für die Oper komponiert, sondern aus einem Fundus an damals gängiger und geeigneter Musik ausgewählt. Das Huelgas Ensemble unter der Leitung von Paul Van Nevel hat sich für eine Gagliarde des Komponisten Salomone Rossi entschieden, die zuerst mit einer Einhandflöte und Trommel von einer Person gespielt und dann mit verschiedenen Instrumenten wiederholt wird. Die lieblich und verträumt klingenden Sinfonia werden manchmal durch bedrohliche Trommeln unterbrochen, die die wachsende Bedrohung durch Alcinas Zorn ankündigen. Die Tänze der befreiten Ritter und Mädchen dagegen sind umso fröhlicher und energiegeladener. Alcina ist geflohen, die Insel ist untergegangen: Zeit für das Schlussmadrigal, bei dem sich die Stimmen des Chores mit denen von Melissa und Ruggiero vereinen und das Publikum auffordern, sich mit ihnen über den glücklichen Ausgang der Oper zu freuen.
Francesca Caccini: Hofkomponistin der Medici
Francesca Caccini wurde 1587 als Tochter des Komponisten Giulio Caccini und seiner Frau, der Sängerin Lucia di Filippo Gagnolanti, geboren und starb vermutlich 1941 in Florenz. Sie war Mitglied des Frauengesangsensembles „Donne di Caccini“, in dem auch ihre Mutter und einige Gesangsschülerinnen mitwirkten. Die zahlreichen Mädchenchorstellen in La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina wurden wahrscheinlich ebenfalls von diesem Ensemble gesungen, Francesa Caccini selbst übernahm die Rolle einer Nymphe. Sie war nicht nur Komponistin, sondern auch Sängerin und Gesangslehrerin, organisierte Konzerte und konnte sich selbst auf der Laute begleiten. La liberazione di Ruggiero dall’isola ist das einzig von ihr erhaltene Musiktheaterstück. Es gilt als die erste Oper einer Komponistin und wurde bereits im Jahr der Uraufführung gedruckt. Von weiteren Musiktheaterwerken Francesca Caccinis sind lediglich die Titel bekannt.
Beitrags- und Hintergrundbild: “La Bella” von Palma Vecchio