Das Cover zeigt einen nachdenklich bis entschlossen drein blickenden Mann, im Hintergrund erstreckt sich ein trüber Ostseestrand. Der Ort ist Pärnu, ein ruhiger Urlaubsort südlich von Tallinn, Estland. Der Mann ist Paavo Järvi, gefeierter Dirigent. Sein Gesichtsausdruck verrät mit der restlichen Bildkomposition bereits alles, was man über die Werke auf diesem Tonträger wissen muss.
Paavo Järvi und das Estnische Festivalorchester. (Foto: David Kornfeld)
Die Symphonie Nr. 6 von Dmitri Schostakowitsch ist kein fröhliches Stück. Entgegen der Aussage des Komponisten, er wolle darin „die Stimmungen des Frühlings, der Freude und der Jugend wiedergeben“, ist trotz einer gewissen Helligkeit deutlich ein leidvoller Gesamttenor herauszuhören. Bekanntermaßen führte der Komponist unter Stalins Terrorregime ein Leben in ständiger Angst und musste unzählige Verluste hinnehmen.
Diese Angst bestimmt den Duktus des ersten Satzes, in dem sich besonders die Holzbläser des Estnischen Festivalorchesters mit herausragenden Soli auszeichnen können. Wer sich einmal gefragt haben sollte, ob Musik schüchtern oder gar verstört klingen kann, findet in dieser Aufnahme die Antwort. Auf den langsamen, langen ersten Satz folgen zwei kurze, schnelle Scherzi. Diese dreisätzige Form ist nicht nur für Schostakowitsch sondern generell für die Gattung Symphonie ungewöhnlich. Der zweite und dritte Satz, vor allem das galoppierende Finale mit ironisch jubelndem Ende, sind dann tatsächlich eher von heiterem, leichtem Gemüt. Lockere und tänzerische Rhythmen lassen den Schmerz des Kopfsatzes beinahe schuldig vergessen. Als Schostakowitsch einst die Symphonie in einer Klavierfassung seinen Freunden vorspielte, merkte jemand an, es sei geradezu als hätte man soeben Rossini im Gewand des 20. Jahrhunderts gehört. Tatsächlich erinnert der Rhythmus des dritten Satzes an Rossinis Ouvertüre zu Wilhelm Tell, welche Schostakowitsch später noch explizit in seiner 15. Symphonie zitieren wird.
Diese Leichtigkeit kontrastierend zum ersten Satz, setzen die Mitglieder des Festivalorchesters mit einer seltenen Spielfreude sehr gut um, es ist deutlich zu hören, dass hier nicht nur gearbeitet, sondern mit Leidenschaft Musik gemacht wird. Paavo Järvi ist sich dieser Besonderheit bewusst, bezeichnet er sein Orchester doch als Familie. Das Pärnu Musikfestival besteht seit 2011, die Verbindung des Dirigenten zu diesem Ort bereits seit seiner Kindheit, da seine leibliche Familie dort viele Jahre ihre Ferien verbrachte. Nun hat man sich also gemeinsam mit dem Label ALPHA CLASSICS an das erste Album gewagt.
Foto: Dmitri Schostakowitsch mit Paavo und Neeme Järvi in Pärnu, 1973.
© Järvi Family
Das Streichquartett Nr. 8 bekommt durch die vervielfachte Besetzung den Charakter einer Trauergesellschaft. Klingt das Original mit seinen vier Mitwirkenden nach der Zerrissenheit und dem Leid eines Einzelnen, so bringt das gesamte Streichorchester den Klang von kollektivem Schmerz und zu Gehör, ohne an einem intimen Ausdruck zu verlieren. Schostakowitsch widmete sein Werk den „Opfer(n) des Faschismus und des Krieges“. Die Sinfonietta lässt diese Stimmung eines unterdrückten und gepeinigten Volkes noch exakter wahrnehmen als die Ursprungsfassung. Häufiger aufgenommen als Kammersymphonie in der Orchestration von Rudolf Barshai, ist diese Einspielung jedoch einzigartig. Das Arrangement von Abram Stasewitsch unterscheidet sich davon in der Verstärkung des Orchesters durch vier Pauken, die in dieser Aufnahme von Madis Metsamart gespielt werden. Mit zarten Wirbeln untermalt er den getragenen ersten Satz, im folgenden, ohnehin rabiaten, Allegro molto entfachen die zusätzlichen Akzente der Pauke ein regelrechtes Donnerwetter. Was Metsamart im vierten Satz veranstaltet grenzt an Geschmackssache, zumal seine Kanonenschläge die Streicherakkorde fast bis zur Unkenntlichkeit übertönen.
In einigen, besonders intimen Passagen greift das Arrangement dann wieder auf Sologeigen und -celli zurück und lässt so die Quartettatmosphäre des Originals durchschimmern. Über fünf Sätze, jedoch von Satz zu Satz attacca gespielt, nehmen uns die Streicher des Festivalorchesters mit auf eine emotionale Reise durch das gebeutelte Leben Dmitri Schostakowitschs. Sie funktionieren optimal als Gruppe und legen die ideale Dosis Individualität an den Tag, die sie an keiner Stelle zu solistisch herausstechen lässt, was bei einer solchen Bearbeitung nicht gerade einfach ist.
Das erste Album des Estnischen Festivalorchesters ist definitiv gelungen. Paavo Järvi weiß dem jungen und dynamischen Ensemble eine gewaltige expressive Bandbreite abzuverlangen. Järvi sagt, er habe bewusst Stücke von Dmitri Schostakowitsch aufnehmen wollen, da auch der Komponist eine besondere Nähe zu Pärnu hatte. Schostakowitsch verbrachte hier zu Lebzeiten seine Sommer um innerhalb der Sowjetunion ein Stück westliche Toleranz genießen zu können. Hier traf er 1973, zwei Jahre vor seinem Tod auf Neeme Järvi und seinen damals zehnjährigen Sohn Paavo. Diese Begegnung war prägend für den heutigen Chefdirigenten des Pärnu Musikfestivals.
In diesem Jahr feiert Estland 100 Jahre Unabhängigkeit von der sowjetischen Besatzungsmacht. „Dass wir diese Werke in Pärnu mit einer Musikergeneration aufführen und aufnehmen können, die nun sowohl den Frieden als auch die Bewegungsfreiheit quer über Europas Grenzen hinweg genießen kann, macht diese Werke nur noch ergreifender“, so der Dirigent über den Hintergrund der Einspielung.
„Sie stehen an der Schwelle einer hoffnungsvollen Zukunft, in der Sie Ihr Schicksal frei und unabhängig bestimmen und lenken können! Beginnen Sie damit, für sich selbst eine Heimat zu errichten, die von Recht und Ordnung regiert wird, damit sie ein würdiges Mitglied in der Familie der zivilisierten Nationen wird!“
(Aus der estnischen Unabhängigkeitserklärung)