Pekka Kuusisto und das Mahler Chamber Orchestra mit „Shapeshifters“ im Konzerthaus Dortmund
Es kann so einfach sein. Und so viel Spaß machen noch dazu. Endlich wieder einmal die festgefahrenen Konzertrituale aufweichen und zusehen, wie sich das Schon-immer-Dagewesene in Luft auflöst! Pekka Kuusisto und dem Mahler Chamber Orchestra gelingt das mit ihrem Programm „Shapeshifters“ im Konzerthaus Dortmund verblüffend mühelos. Hinterfragt werden die etablierte Aufführungspraxis, der Raum und die Rolle des Solisten.
Kurz nachdem sich die Saaltüren geschlossen haben, öffnen sie sich wieder und das Murmeln verstummt. Die Musiker sind alle in weiß gekleidet. Langsam schreiten sie an den Besucherreihen entlang, ein paar tragen feierlich gleißende Neonröhren vor sich her. Als der Trupp sich um das Publikum herumgestellt hat, bellt Pekka Kuusisto kurz. Er steht mitten drin, nach einem erneuten Bellen ballen die Musiker langsam die ausgestreckte Hand zur Faust, begleitet von tiefem Einatmen. Wie im Tai-Chi erfolgt nun pro Atemzug eine langsame, kontrollierte Bewegung. Nach einigen Minuten ertönen schließlich die sich windenden Tongirlanden einer einzelnen Klarinette. Dazu die Übertitel: „Standing naked in the moonlight – music washing the body“.
Im Mittelpunkt des Konzerts steht das Werk „Thirteen Changes“ von Pauline Oliveros. Die Partitur passt auf eine Seite: 13 kurze Sätze liefern das Material für eine freie Improvisation. Die Musiker meistern diese ungewohnte Spielanweisung wacker, ihre Improvisationen wirken sehr plastisch, als hätten sie die Sätze wortwörtlich in Musik übertragen. „Elephants mating in a secret score“: Eine sinnliche Cellokantilene geht bald in lautes Hornprusten über. „A solitary worm in an empty coffin“: ein einsam-mäanderndes Fagottsolo. „A singing bowl of steaming soup“: Summen, Seufzen, Schmatzen. Und „Rollicking monkeys landing on Mars“, bei dem das Orchester komplett wild geworden über die Bühne tollt.
Zwischen den einzelnen Sätzen von „Thirteen Changes“ erklingt auskomponierte Musik. Von Frühbarock bis Zeitgenössisch ist alles dabei. „Camelopardalis“ von Andrea Tarrodi ist ein vielschichtiges, tonales Flirren. Über einem dichten Streicher-Flageolett-Teppich blitzen einzelne Klangfarben hervor, oft sind es die Holzbläser. Es ist ein schwebendes Werk, alle erdenden Strukturen sind aufgelöst. „Camelopardalis“ ist der Ausdruck für das Sternbild der Giraffe, davor wurde über Sonnenwinde und Kometenschweif improvisiert. Solch treffende Übergänge gibt es viele und sie funktionieren wunderbar. Wenn die Flötenimprovisation über „A single egg motionless in the desert“ auf einem fahlen Ton endet, beginnt die anschließende „Fantasie upon one note“ von Henry Purcell mit genau diesem Ton. Danach folgt eine Fantasie von John Eliott Carter über die eben gehörte Purcell-Fantasie. Neue Musik mit direkter Verbindung zur Vergangenheit.
Die Bezüge sind wie Fäden durch das gesamte Konzert gespannt. Alles ist mit allem verbunden, wie in einem großen Netz. Vielleicht spannen deshalb die Musiker wortwörtlich kreuz und quer weiße Seile durch den Raum. Auf jeden Fall wird klar, wie viel mit wenigen Mitteln gelingen kann. Der Regisseurin Jorinde Keesmat setzt auf Abwechslung und Subtilität. Die wohlplatzierten Stücke erklingen mal von der Bühne, mal von den Rängen. Die Besetzung wechselt ständig, die Musiker hören sich gegenseitig zu. Die gezielte Lichtsetzung von Desirée van Gelderen verstärkt die Atmosphäre.
Dieses Konzert hinterfragt Rollenbilder. Obwohl Pekka Kuusisto das Aushängeschild ist, tritt er oft in den Hintergrund. Das Mahler Chamber Orchestra wird mal von ihm dirigiert, mal von einem Cellisten aus den eigenen Reihen, mal gar nicht. Den Musikern macht das Ganze sichtlich Spaß, sie lächeln sich an, wenden sich einander zu, reagieren aufeinander. Und auch der Hörer wird sensibilisiert. Nach den Miniaturimprovisationen klingt das Allegro aus Wolfgang Amadeus Mozarts viertem Violinkonzert besonders klar und durchsichtig und im zweiten Satz aus György Ligetis Violinkonzert schimmert die Volksmusik aus Ale Möllers „Glaspolskan“ durch. Den Abschluss bildet das Finale aus Béla Bartóks „Konzert für Orchester“, in dem alle Register der musikalischen Energieausschüttung gezogen werden. Jedes Instrument ist wichtig. Pekka Kuusisto steht am letzten Pult der zweiten Geigen, als der Applaus ertönt, reckt er eine Faust in die Luft.
© Felix Broede
© Molina Visuals