“For the Bergen National Opera press one. For the Dutch National Opera press two. For the Teatro Real Madrid press three. For the” – Ok, ich hab die Computerfrau am Telefon zwar kaum verstanden, aber ich nehme mal die drei, denke ich. Wer weiß, wie viele Nummern noch kommen.
Eigentlich wollte ich in die Oper, aber das geht wegen eines Virus nicht. Stattdessen sitze ich mit dem Telefon auf der Couch, die heutige Alternative: “THIS EVENING’S PERFORMANCE HAS NOT BEEN CANCELLED.”
Zoë Irvine, Künstlerin und Sounddesignerin, hat das Theatrophon* ausgegraben, wie ich im Nachhinein recherchiere. Sie überträgt die Erfindung des 19. Jahrhunderts in unsere Coronazeit und konzipiert sie zu einer Performance. In den Hauptrollen: KünstlerInnen neun europäischer Opernhäuser und AnruferInnen zig privater Haushalte, 2 Stunden wird kostenlos telefoniert. Pro Opernhaus sitzen zwei Beteiligte abgesagter Produktionen am Apparat und beantworten geduldig alle Fragen, als wären sie nicht nur KünstlerInnen sondern auch ausgebildete CallcenteragentenInnen.
Es raschelt und knistert, die Spannung steigt
Es dauert nicht lange und mein Spieltrieb ist geweckt. Ich springe vom Hauptmenü in die unterschiedlichen Leitungen und spreche mit einem französischen Choreographen in Madrid, einem englischen Produzenten in Genf und einem italienischen Sänger in Wuppertal. Zum Glück ist mein Schulenglisch zu etwas zu gebrauchen und ich frage mich, wie es Durchschnitts-Opern-Besuchenden wohl ergeht.
“Wie bereiten Sie sich auf barocke Werke vor? Was passiert, wenn Regisseure gesanglich Unmögliches verlangen? Wie wirkt die erzwungene Pause auf das künstlerische Schaffen? Was passiert, wenn ich jetzt die vier drücke?” Alle Fragen, die mir in den Kopf schießen, darf ich stellen. Die anfängliche Verwirrung und Verunsicherung sind verflogen und es sprudelt aus mir heraus. Nach beliebig viel Zeit, bevor die Gefahr von unangenehmen Gesprächspausen zu groß wird, darf ich mir Musik aus den abgesagten Inszenierungen wünschen. Es raschelt und knistert, einzelne verzerrte Töne klingen aus der Ferne und ich erkenne – nichts. Na gut, dafür scheinen europäische Telefonnetze nicht gut genug ausgebaut zu sein und ich nutze die Plapperpause stattdessen zum durchatmen.
Später tauschen wir uns rege aus, nach dieser Auszeit vom Alltagstrott
Mittlerweile beugen sich auch meine MitbewohnerInnen über den Lautsprecher und wir stehen gemeinsam unter Spannung, wer am anderen Ende als nächstes abheben wird. Später tauschen wir uns rege aus, über den Einblick hinter die Kulissen, die Aufrichtigkeit der Antworten und die Bedeutung von Kunst in unserer Gesellschaft. Es erinnert an gemeinsames Ausgehen. Von welchen Inszenierungen zwischendurch die Rede war, haben wir vergessen, aber das scheint sekundär nach dieser Auszeit vom Alltagstrott. Die Eindrücke wirken tagelang nach und das einzige, was fehlt, ist Teil eines Publikums gewesen zu sein.
Endlich ein Format, das in diesen Zeiten für sich steht! Andere und anregende Einblicke, ein neuer Bruch der vierten Wand und ein über sich hinauswachsen, immerhin funktioniert hier stummes Rezipieren und routiniertes Ausgehen nicht.
Endlich der Beweis für grenzen- und spartenübergreifendes künstlerisches Wirken.
Endlich der Beweis: Not macht erfinderisch.
Egal was da draußen passiert.
*Theatrophon
Einer der Vorläufer des Radios stammt aus den 1880er Jahren und ermöglichte die Live-Teilnahme an Opernaufführungen übers Telefon.
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