Früchte guter Zusammenarbeit

Operngeschichte wird nicht mehr in Paris, Wien oder München geschrieben, sondern zwischen Fußball und Currywurst im Ruhrpott. Die Opernhäuser in Dortmund und Essen haben zum Jahresbeginn mit Augusta Holmès La Montagne Noire und Louise Bertins Fausto Werke faszinierender Komponistinnen des 19. Jahrhunderts als Deutsche Erstaufführungen auf die große Bühne gebracht.

Diversitätsdiskurse kommen langsam aber sicher auch in der Klassikwelt an – wenn auch in faultierhafter Dauerzeitlupe, bei der man sich nicht selten fragt, ob sich überhaupt etwas bewegt. Insbesondere in der Oper ist es weiterhin eine absolute Rarität, Werke von nicht-weißen und/oder nicht-männlichen Komponist*innen auf der Bühne zu erleben. Das hängt abseits von Zeitgenössischem nicht zuletzt mit dem großen Aufwand zusammen, der für die Produktion eines unbekannten, historischen, oft lange in Archiven verstaubten Werkes betrieben werden muss. Dafür braucht es gute interne Zusammenarbeit, externe Kooperationen in die Wissenschaft, Zeit, Geld, Willen und eine Prise Glück. Dafür haben nicht alle Häuser die nötigen Ressourcen – oder den nötigen Mut. Organisatorische Mühseligkeit kann man sich dabei gut vorstellen, doch welche Schwierigkeiten ergeben sich für die Produktionen in der künstlerischen Umsetzung? Welche Chancen? Spielt das Geschlecht der Komponistinnen dabei eine Rolle? Dazu habe ich mit den künstlerischen Teams in Dortmund und Essen gesprochen und auch die Frage aller Fragen gestellt: Lässt sich der Opernkanon überhaupt nachhaltig verändern? Spoiler-Alert: Einfach wird es wohl nicht…

Intern: Zusammenarbeit im künstlerischen Team
Dortmund Essen
Regie: Emily Hehl Regie: Tatjana Gürbaca
Musikalische Leitung: Motonori Kobayashi Musikalische Leitung: Andreas Spering
Dramaturgie: Daniel Andrés Eberhard Dramaturgie: Patricia Knebel

Durch lange, stille Gänge lotst man mich von Mitarbeiter*innenpforten in Foyers. In ihrer Labyrinthartigkeit ähneln sich dann doch alle Opernhinterhäuser. Schnell habe ich vergessen, durch welche Tür wir gekommen sind. Statt Trubel, Gläserklirren und Gesprächen erwarten mich hier sowohl in Dortmund als auch in Essen nur drei Personen, die Köpfe der künstlerischen Teams. Arbeitsatmosphäre statt Eventekstase. Die ‚kritischen‘ Probenphasen laufen, die Premieren stehen vor der Tür. Trotz steigenden Drucks ist die Stimmung gut und die große Begeisterung für die Werke allgegenwärtig, obwohl sich im Produktionsprozess für alle Beteiligten ganz eigene Herausforderungen stellen. Schon für die Vorbereitung des Materials sind regelrecht Sherlock Holmes Skills gefragt!

Denn weder zu La Montagne Noire noch zu auch zu Fausto gibt es ausreichend wissenschaftliche Forschung, geschweige denn einen Pool an Referenzaufnahmen, die eine Orientierung im Werk erleichtern. Das bedeutet Zeitaufwand. Regisseurin Emily Hehl muss einen Moment überlegen, wie lange sie sich nun schon mit dem Werk beschäftigt – „fast drei Jahre“ schließlich die Antwort, in denen sie nebenbei selbst zur Detektivin wird, unter anderem Vorlagen für das Libretto in slawischen Volksliedern ermittelt und sich das Werk am Klavier erarbeitet. Während sie im Übergang in die praktische Umsetzung einen Schlussstrich unter die Recherche ziehen kann, stürzt sich Dramaturg Daniel Eberhard zu diesem Zeitpunkt immer noch auf jede neue Quelle. In Essen puzzelt Regisseurin Tatjana Gürbaca nachträglich entdeckte Rezitative in den Autograph von Fausto und versucht sich einen Reim auf das altertümliche Italienisch zu machen – trotz guter Italienischkenntnisse für sie allein kaum machbar. Erst die beauftragte Übersetzung eines historischen Klavierauszugs schafft Abhilfe, aber auch neue Verwirrungen, denn so ganz stimmt dieser nicht mit der Partiturfassung überein. Erneut ist Detektivarbeit von Gürbaca und Dramaturgin Patricia Knebel nötig.

Die Dirigenten verbringen zum Zeitpunkt des Gesprächs wohl schon große Teile ihres Tages im dunklen Orchestergraben. Erst eine Zigarettenlänge und eine Suche nach dem perfekten Sonnenplatz später berichten Andreas Spering und Motonori Kobayashi von Herausforderungen und Reizen unbekannter und ungehörter Musik. In der Ausarbeitung seiner Interpretation ist das Kennenlernen der Komponistin Holmès für Kobayashi wie eine neue Sprache lernen: man muss ihre musikalischen Redewendungen erst einmal verstehen, ihren Dynamikdifferenzierungen nachspüren. Spering ist ohne Vergleichswerte auf der Suche nach den perfekten Tempi und zweifelt daran, dass es dieses für eine bestimmte Arie überhaupt gibt. Er braucht etwas länger, um mit Fausto warm zu werden, hält das Werk zunächst – wie auch die Orchstermusiker*innen – mit einer gewissen ‚professionellen Arroganz‘ für überschaubar und simpel. Mit längerer Beschäftigung entwickelt es für ihn aber immer mehr Qualitäten: eine ‚Liebe auf den zweiten Blick‘ die sich auch ins Orchester überträgt, wie er und Gürbaca amüsiert feststellen. Immer öfter ertappen sie die Musiker*innen beim Summen der Melodien in den Probenpausen.

Augusta Holmès

1847-1903

Irisch-schottischer Abstammung, kämpft lange um die französische Staatsbürgerschaft – der accent grave auf ihrem Namen ist selbstgewählt. Als „Dichterkomponistin“, schreibt sie die meisten ihrer Libretti selbst, besucht nie das Pariser Konservatorium, erhält dafür aber Privatunterricht u.a. bei César Franck. Von vier Opern schafft es einzig La Montagne Noire zur Premiere.

Ein bisschen mehr. Noch mehr.

La Montagne Noire (1895)

Lyrisches Drama in vier Akten und fünf Bildern, UA 1895 an der Paris Opéra – erst zum zweiten Mal spielt das Haus nach Bertins La Esmeralda ein abendfüllendes Werk einer Frau.

Mitten im Krieg Montenegros mit dem Osmanischen Reich verliebt sich Heerführer Mirko in den Feind: Yamina. Sein Blutsbruder Aslar versucht das Schlimmste zu verhindern. Am Ende sind beide tot – Yamina ‚lives to tell the tale’.

Erhält 13 Aufführungen, die Presse reagiert gespalten – nach Absetzung nie wieder gespielt.

Louise Bertin

1805-1877

Aufgewachsen in künstlerischen Kreisen als Tochter des Direktors des Journal des Débats. Querschnittsgelähmt findet sie Zuflucht im Komponieren und Dichten – vier Opern entstehen, am bekanntesten La Esmeralda. Die UA an der Pariser Oper beendet Bertins Karriere mit einem Skandal, der Vorwurf des Publikums: ihr Freund Berlioz habe das Werk geschrieben – hat sie zu gut komponiert?

Ein bisschen mehr.

Fausto (1831)

Oper semiseria in vier Akten, nach Goethes Faust – UA 1831 am Théâtre-Italien in Paris

Alternder Wissenschaftler Faust will mit Hilfe Mephistos Margarita für sich gewinnen – aber für großes zwischenmenschliches Drama braucht es den Teufel gar nicht.

Nach drei Aufführungen wegen Schließung des Theaters verschwunden, erst kürzlich wiederentdeckt.

Spering: „Das Stück ist, wie jedes gute Meisterwerk, deutlich größer als man selbst. Das heißt, Sie können es nie ganz erfüllen.“

Besonders ist für beide Teams, dass sie aufgrund der umfangreichen Vor- und Recherchearbeit außergewöhnlich früh zusammenkommen und sich daraus tolle Dynamiken entwickeln. Die Herausforderungen werden gemeinsam gemeistert. Gürbaca freut sich insbesondere, den Routinen anderer Produktionen zu entkommen, bei denen man Teile des Teams manchmal erst bei den Endproben sehe. Knebel hat das Gefühl, gemeinsam einem Kind beim Aufwachsen zuzusehen, jeden Tag bekomme man eine neue Facette des Stücks zu greifen – außerdem weiß niemand mehr als andere:

Knebel: „Es ist für alle ganz neu und ich glaube, das macht auf jeden Fall etwas fürs gemeinsame Gefühl.“

Kobayashi findet Teile seiner Interpretation erst in der Zusammenarbeit mit Regie und Sänger*innen – nicht alles ist für einen Dirigenten alleine am Tisch lesend machbar, nicht alles steht in den Noten. Zu Beginn der Proben ist das Team daher noch ungewöhnlich flexibel und schaut gemeinsam, was wirkt und was nicht.

Hehl: „Das Schöne ist, dass Werk und Produktion in dem Moment wirklich zu einem werden. Das, was man sich immer wünscht, weil es die Tradition in dem Sinne nicht gibt, das Repertoire nicht gibt. Ich habe das Gefühl, man ist näher an dem dran, wie man vor 200 Jahren Oper gemacht hat.“ 

In Dortmund kann das ursprünglich von Holmès geplante – damals von Produktionsseite aber gestrichene – Finale uraufgeführt werden. Das fühlt sich für das Team alles andere als beliebig an, es wird ein kleines Stück Geschichte geschrieben.

Extern: Kooperation mit dem Palazzetto Bru Zane

Seit 2009 erforscht und verlegt man im Palazzetto Bru Zane unbekannte Werke französischer Komponist*innen des langen 19. Jahrhunderts und pflegt vom Hauptsitz in Venedig zahlreiche Kontakte im musikalischen Europa. Als wissenschaftlicher Kooperationspartner mit ganz anderen personellen und finanziellen Ressourcen machen sie die Produktionen trotz der großen Recherchebereitschaft in den künstlerischen Teams erst möglich. Wie Alexandre Dratwicki, der künstlerische Leiter Bru Zanes, berichtet, werden in einer Saison fünf bis sechs szenische Opernproduktionen begleitet. Dabei wird die Zusammenarbeit an die Bedürfnisse der Häuser angepasst: Manchmal tritt man nur als Herausgeber der Noten, oft beratend und (mit)produzierend auf. Besondere Betonung findet die Offenheit, die beide Seiten mitbringen müssen.

Dratwicki: „This collaboration can only exist if musicologists agree to consider the problematic[s] of production and if directors of opera houses open their mind[s] [with] curiosity.”

Sowohl in Essen als auch in Dortmund profitiert man sehr von der bereitgestellten Expertise. Die wenige Literatur zu Fausto wird durch den Palazzetto sukzessive ergänzt, Fragen zur Neuedition der Partitur werden jederzeit beantwortet. Auch in Dortmund rückversichert man sich bei musikalischen Unklarheiten oder Abweichungen zwischen Klavierauszug und Partitur und erhält insbesondere bei den ersten Proben vor Ort Unterstützung. Für beide Teams ist es ein bereicherndes und spannendes Modell, derartig mit Forschungsinstitutionen zusammenzuarbeiten, um mehr Unbekanntes auf die Bühnen zu bringen und neue Perspektiven zu öffnen. Und für den Palazzetto ist bei aller Liebe zur Forschung das ultimative Ziel, die (wieder)entdeckten Werke auf Bühnen erleben zu können.

Mittendrin: Let’s talk about Gender

Aber ist es nun besonders schwer, das Werk einer Frau auf die Bühne zu bringen? „Nein“ heißt es dazu aus beiden Teams – die Hürden werden vor allem bei der Unbekanntheit gesehen, nicht dem Geschlecht. Im aktuellen gesellschaftlichen Klima sei es dann eher noch zuträglich, wenn das Werk aus der Feder einer Komponistin stammt. Das ist auch beim Palazzetto Bru Zane angekommen, eine verstärkte Nachfrage nach Werken von Frauen führte nicht zuletzt dazu, dass sie diesen auch in ihren vergleichsweise komplexeren und vor allem finanziell aufwendigeren Opernaktivitäten mehr Raum geben.

Dratwicki: „If we want to show the real merit they could have, we should not promote only chamber music or little songs for salons.“

In der Inszenierungsarbeit spielt für die Regisseurinnen das Geschlecht der Komponistinnen eine wichtige, aber nebengeordnete Rolle. Augusta Holmès Werk spiegelt für Emily Hehl ganz allgemein das Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit ihrer Zeit wider, das sie – anders als viele ihrer Kollegen – auch auf die Frauenrollen ausweitet.

Hehl: „Man merkt das an kleinen Momenten, die ich bei einem männlichen Komponisten vielleicht nicht so aufmerksam gelesen hätte. Beispielsweise fängt sie damit an, dass ein ganzer Frauenchor über ihre Situation im Krieg berichtet. Wir beginnen mit einem weiblichen Botenbericht, einer weiblichen Perspektive auf diesen Befreiungskrieg. Und die Femme fatale, die Hauptfigur, die in der Opernliteratur zu 99 % stirbt, überlebt in diesem Werk und ist diejenige, die weiter Geschichten erzählen kann.“

Tatjana Gürbaca betont die zweifache Marginalisierung Louise Bertins als Frau und Querschnittsgelähmte – wobei letzteres auch bedingt, dass die Komponistin den Grenzen und Rollenbildern ihres Geschlechts teils entkommen kann.

Gürbaca: „Ich glaube, dass sie mit all dem einen besonderen Blick auf das Stück hat. Nicht nur als Frau, sondern als Mensch mit ihrer ganzen Biografie. Und dass sie einen sehr bissigen Blick auf die Gesellschaft wirft und sehr genau beschreibt, wie Frauen eigentlich am untersten Ende der hierarchischen Leiter stehen. Wie Freundschaften ganz schnell zerbrechen können. Wie in menschlichen Verhältnissen immer auch eine Falschheit steckt. Und wie dieser Gossip über die schwangere Margarita wirklich zerstörerisch sein kann. Da finde ich das Stück sehr zeitlos und da ist sie auch unglaublich frei im Umgang mit Goethe.“

Das Team in Dortmund ist sich einig, dass Holmès eine beeindruckende Person gewesen sein muss. In Essen bewundert man, wie sich die 21-jährige Bertin in Fausto musikalisch ganz bewusst in Mozarts Fußstapfen stellt, nach den Sternen greift. Die beachtlichen Hürden ihrer Zeit konnten wohl nur von außergewöhnlichen Frauen überwunden werden – und ihre Perspektiven auf die damalige Gesellschaft sind erfrischend neu (zumindest auf heutigen Bühnen) und wichtig.

Öffentlich: Rezeption und Vermittlung

Nun sind die Premieren geschafft, Presse und Publikum in weiten Teilen begeistert oder zumindest angetan. Verkaufszahlen allerdings bestenfalls mittelmäßig, wohl vor allem wegen der Unbekanntheit der Werke. Zweifel über die künftige Etablierbarkeit der Stücke werden geäußert. Was bleibt also? Lässt sich der seit Dekaden bestehende, ins Ohr aller regelmäßigen Operngänger*innen eingebrannte Kanon überhaupt nachhaltig verändern?

Kanon vs. Repertoire

Kanon (altgriechisch: „Regel, Richtschnur“): Organisationsform von kulturellen Gedächtnissen, Zusammenstellung von Werken mit zeitüberdauernder Bedeutung (‚Meisterwerke‘)

Repertoire (französisch: „Inventarverzeichnis, Register“): Vorrat an Werken, die regelmäßig zur Aufführung kommen – vergleichsweise schnellerem Wandel und Trends unterworfen

Hier sind beide Teams nur verhalten optimistisch. Die Entscheidung, was auf dem Spielplan landet, treffen zunächst Intendant*innen und Chefdramatug*innen – der eigene Einfluss darauf wird eher gering eingeschätzt. Gürbaca verzeichnet besonders an kleineren Häusern trotz Potenzial und kreativer Köpfe wegen fehlender Mittel immer weniger Risikobereitschaft, Ungewöhnliches zu programmieren, wenn kein (finanzieller) Erfolg in Aussicht steht. Kosten waren auch der Grund, warum in Essen keine CD oder DVD zur Inszenierung entstanden ist – heutzutage Geldfresser statt Geldeinbringer – die noch einmal weitere Kreise hätten ziehen können. Auch das ist ein Aspekt bei dem der Palazzetto Bru Zane wichtige Arbeit leistet: Im Falle von Fausto wurden bei einer konzertanten Produktion in Paris im Juni 2023 Aufnahmen gemacht und vor kurzem veröffentlicht.

Zwar sei viel und positive Aufmerksamkeit für die Inszenierungen von Vorteil, um die Werke bekannter zu machen, doch letztendlich sind Aufnahmen das, womit sich andere Kunstschaffende beschäftigen können und anhand dessen sie Programmierungs-Entscheidungen treffen – Dratwicki ist sich daher des Gewichts der ersten Aufnahme bewusst.

Dratwicki: „[I]t can kill the music or make it enter the repertory. […] If you are the only model, you have the responsibility to convince!”

Im Falle von Fausto glaubt Gürbaca fest daran, dass das Stück repertoirefähig ist. Die Spieldauer ist mit zwei Stunden überschaubar, die Besetzung lässt sich von vielen Häusern aus dem Ensemble stellen und es sind keine Spezialinstrumente gefordert. Lustige und dramatische Momente gehen Hand in Hand und vor allem ist der Stoff, Goethes Faust, bekannt. Das kann in der Vermarktung und Vermittlung sehr helfen, betont auch Knebel. Wenn das aber tatsächlich die entscheidenden Kriterien sind, und die direkte Konkurrenz zu Werken der männlichen Kollegen überwunden werden kann, sieht es für La Montagne Noire schlecht aus. Mit ‚Überlänge‘, einem ganzen Arsenal an ungewöhnlichen oder ausgestorbenen Instrumenten und teils extrem anspruchsvollen Gesangspartien sind Häuser hier konfrontiert. Was bei Wagner niemanden stört, schreckt bei einem unbekannten Werk erst einmal ab. Auch hier wird es leider keine Aufnahme geben, über die sich andere Intendant*innen in die Musik verlieben könnten. Es liegt also nicht zuletzt am Publikum, die Kunde in die Welt zu tragen.

Hehl: Für den Kanon sind, glaube ich, weniger die Kunstschaffenden als die Rezipierenden verantwortlich.“

Aber auch die Einbettung in den Spielplan und die Vermittlungsarbeit um die Werke kann wichtige Akzente setzen und Hemmschwellen für Besucher*innen abbauen. Hier könnten die Strategien in Dortmund und Essen unterschiedlicher nicht sein. Von dramaturgischer Seite wird jeweils betont, dass es ohne ‚Kassenschlager‘ nicht geht. Unbekanntes müsse man sich erlauben können – obwohl das eben auch gerade die Produktionen seien, die ein Haus künstlerisch weiterbringen. Vor allem erzeugen sie auch über die Region hinaus Aufmerksamkeit. In Essen hat Dr. Merle Fahrholz bereits zu Beginn ihrer Intendanz angekündigt, dass es in jeder Spielzeit ein Werk von einer Frau geben wird – sie macht dies zu einem wichtigen dramaturgischen Fokus ihres Programms. Das spiegelt sich auch darin wider, dass neue Formate um eben jene Produktionen entwickelt werden. Im Mai findet beispielsweise das erste her:voice Festival statt, bei dem eine breitere, nicht zuletzt wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk und anderen Stücken von Komponistinnen erfolgt. Für Heribert Germeshausen in Dortmund ist La Montagne Noire in erster Linie Kontextwerk für seinen Wagner Kosmos, auf dem hier der dramaturgische Fokus der Spielzeit liegt. Auch hier gibt es im Mai, um die Premiere des Rheingolds herum, ein Festival. Dieses ist zwar thematisch breit gefächert und ansatzweise mit Essen koordiniert, aber im Zentrum steht ganz klar Wagner. Die Nähe oder Verbindung zu diesem ‚Operngroßmeister‘ kann für viele schon Kaufargument genug sein, aber die unbekannten Werke stehen so auch immer gewollt oder ungewollt in dessen Schatten.

Welche Strategien tatsächlich funktionieren wird sich aber erst in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zeigen. Um das Repertoire und ultimativ den Kanon nachhaltig zu verändern scheint allerdings ein Fokus der Vermittlungs-Ressourcen auf den unbekannten Werken vielversprechender. Hier kann das Publikum auf Neues eingestimmt und eben jene Begeisterung geweckt werden, die sich bei den künstlerischen Teams bei näherer Beschäftigung schnell breit gemacht hat. Klar ist: Nur durch vielschichtige Zusammenarbeit lässt sich etwas bewegen. Es braucht Bereitschaft, die Extraarbeit für eine Produktion wie La Montagne Noire oder Fausto im Team zu meistern, Willen, mit externen Expert*innen und wissenschaftlichen Institutionen zusammenzuarbeiten und damit auch mehr Forscher*innen, die sich mit nicht-weißen und/oder nicht-männlichen Komponist*innen und ihrem Werk befassen. Und es braucht verstärkt Öffnung für Neues im Publikum und Aufnahmen an weiteren Opernhäusern. Damit die so aufwendig wiederbelebten Werke nicht erneut verschwinden, die Zusammenarbeit mehr Früchte trägt und Diversität sich auf Opernbühnen etablieren kann.

Schon bereit für Neues?

Noch bis Mai 2024:

Dortmund: La Montagne Noire – Augusta Holmès

Essen: Fausto – Louise Bertin

Premiere am 16.03.24, Essen: L’Amant Anonym oder Unerwartete Wendungen – Joseph Bologne, genannt ‚Chevalier de Saint-Georges‘

Premiere am 07.04.24, Wuppertal: Erwartungen/ Der Wald – Arnold Schönberg/ Ethel Smyth

Bildcredits: Produktionsfotos Bildergalerie: Fausto (1,3): (c) Forster; La Montagne Noire (2,4): (c) Björn Hickmann; Beitragsbild: pixabay OpenSource (von der Autorin bearbeitet)

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