Online-Bestellung aufgeben, abschicken, Lieferung unterwegs! Dieses Angebot gibt es in der Coronakrise nicht nur beim Pizzaservice von nebenan, sondern auch mit Musik. Der MDR Lieder-Lieferdienst bringt den Menschen die Musik bis an die Haustür. Die Musiker*innen des MDR Rundfunkchors und Sinfonieorchesters spielen auf Empfehlung ihres Publikums Mini-Dankeschön-Konzerte für die Helden unseres Corona-Alltags. Annemarie Gäbler und Adam Markowski aus dem Orchester touren derzeit als Geigenduo durch ganz Mitteldeutschland. Wir haben mit den beiden über ihren neuen Alltag und, hoffentlich kommende, Goldene Zwanziger gesprochen.
terzwerk: Gibt es im Leben eines Musikers einen Alltag und wie sah der vor der Corona-Pandemie aus?
Markowski: Das ist ein ganz normal strukturierter Arbeitsalltag wie für andere Menschen auch. Abgesehen von den Proben selbst, bereiten wir uns wöchentlich auf nächste Programme vor. Dazu gehört bei einem Rundfunksinfonieorchester auch immer mal wieder das Einspielen von Filmmusiken, zuletzt beispielweise für „Sense 8“ oder „Babylon Berlin“.
Bei manchen Kollegen kommt noch dazu, dass sie an den Musikschulen oder Hochschulen unterrichten. Und dann ist es schon fast ein bisschen knapp, wenn man zusätzlich ein Hobby – in meinem Fall Fotografie und ein bisschen Video – unterbringen will.
Gäbler: Als reines Sinfonieorchester spielen wir ein wöchentlich wechselndes Repertoire, welches von jedem Kollegen individuell vorbereitet wird. Meistens finden von Mittwoch bis Freitag immer zwei Proben à zweieinhalb Stunden statt, wo das ganze Orchester gemeinsam probt. Dazwischen haben wir eine Stunde Mittagspause. Am Samstagmorgen ist üblicherweise um 9 Uhr die Generalprobe und dann folgen die Konzerte. Als MDR Rundfunkorchester und Chor fahren wir an viele Orte Mitteldeutschlands, um unsere Konzerte zu spielen.
terzwerk: In welchen sozialen Projekten haben Sie sich in der Vergangenheit musikalisch engagiert?
Gäbler: Also ich kann da auf jeden Fall den Verein „Yehudi Menuhin Live Music Now“ nennen, den ich unglaublich toll finde. Der Geiger Yehudi Menuhin hat dieses Projekt selbst gestartet. Damit wollte er Musik zu Menschen in sozialen Einrichtungen bringen, denen sonst der Weg in den Konzertsaal nicht möglich ist. In erster Linie nimmt die Organisation Studierende und junge Künstler auf. Ich war dort zu meiner Studienzeit selbst Stipendiatin und die damalige Vereinsarbeit kommt dem Lieder-Lieferdienst schon sehr nah.
terzwerk: Auf welchen Umwegen ist der Lieder-Lieferdienst entstanden?
Gäbler: Ich glaube, als dieser Shutdown kam, waren auch wir Musiker*innen vom MDR total überrumpelt. Wir mussten alle erstmal wieder auf die Füße kommen. Doch sowohl im Chor als auch im Orchester gab es eine große Motivation, irgendwie weiter zu machen. Daraufhin sind sehr, sehr viele kreative Ideen entstanden. Neben den Puzzlevideos, die überall im Netz zu sehen sind, hatte ich zum Beispiel überlegt, ob man sich einfach auf ein Floß setzt, dort spielt und so den Kanal entlang schippert. So werden die Menschen auch gar nicht erst dazu verleitet, in einer Masse stehen zu bleiben. Einige Kollegen haben dann ohnehin schon Balkonkonzerte gegeben oder für die Nachbarn gesungen. Als in der Redaktion die Idee des MDR Lieder-Lieferdienstes entstand, war die Bereitschaft schon wahnsinnig groß.
Markowski: Wir waren natürlich auch gezwungen, uns zu entscheiden: Wollen wir aus der Öffentlichkeit komplett verschwinden oder wollen wir wahrnehmbar sein und zwar nicht nur online? Da war es uns in den MDR Ensembles wichtiger auf das Live-Erlebnis zu setzen und einfach wirklich zu den Menschen zu gehen.
terzwerk: Können Sie einen Einblick geben, wie sich Ihr Alltag durch den Lieder-Lieferdienst verändert hat?
Markowski: Mit dem Lieder-Lieferdienst haben die jeweiligen Teams bis zu drei Konzerte am Tag und das Orga-Team bei MDR Klassik plant für uns und die anderen Ensembles dann eine sinnvolle Route. Vorher gibt es ein kurzes Briefing, damit wir wissen, wo wir hinfahren, wer eingeweiht ist und wen wir da überhaupt besuchen.
Gäbler: Anders als sonst beginnt unser Tag dann auch recht früh. Häufig steigen wir bereits um 8 Uhr ins Auto, weil wir teilweise auch ziemlich weite Strecken zurücklegen müssen. Nach ein bis zwei Stunden kommen wir hoffentlich pünktlich beim Auftrittsort an. Dort ist es meistens so, dass wir direkt die Instrumente auspacken und mit dem Konzert beginnen. Das ist schon mal was ganz anderes als im sonstigen Alltag. Wir haben quasi die ganze Zeit gesessen, konnten uns nur gedanklich auf das Konzert einstellen und müssen schnell in den Konzertmodus umstellen. Nach dem Auftritt quatschen wir vielleicht noch kurz mit den Leuten, düsen weiter zum nächsten Konzert und dann geht es von vorne los.
terzwerk: Welche Einrichtungen haben Sie schon zu neuen Spielstätten gemacht?
Gäbler: An einem Tag waren wir zuerst bei einer Wachkomastation, da haben wir im Hof gespielt. Das andere Konzert war bei einer Familie im Garten und das dritte dann im Kinderpflegeheim für behinderte Kinder. Das sind natürlich alles unterschiedliche Adressen und ein riesiger Unterschied zu dem, was wir sonst im Orchesteralltag erleben. Man muss ganz anders moderieren oder andere Stücke mitbringen.
terzwerk: Nach welchen Kriterien stellen Sie Ihr Programm zusammen?
Markowski: Wir versuchen natürlich – sprichwörtlich – die Leute da abzuholen wo wir sie vermuten. Wenn sie vielleicht nicht so klassik-affin sind, wollen wir trotzdem als Botschafter dieser Musikrichtung auftreten. Deswegen haben wir unter anderem eine Sonate für zwei Violinen von Tartini rausgesucht, die auch Menschen erreicht, die sonst vielleicht eher Pop-Balladen oder Romanzen im Radio hören. Dann hat man quasi schon eine Brücke gebaut und eventuell Neugier geweckt auf das, was uns diese klassische Musik eigentlich bedeutet. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Menschen hinterher Lust haben, mehr davon zu hören.
Gäbler: Ganz hoch im Kurs steht bei uns der Geiger Alexey Igudesmann. Er hat tolle Musik für zwei Geigen geschrieben, die unseren Zeitgeist ganz gut trifft. Die Sammlung enthält unter anderem irische Musik oder auch mal einen Tango. Bei den Kindern schauen wir, dass es eher sowas zum Mitklatschen ist – ein bisschen Rambazamba!
terzwerk: Wie erleben Sie die veränderten Rahmenbedingungen der Konzerte?
Markowski: Ganz unterschiedlich, bei schönem Wetter und auf gepflastertem Terrain ist natürlich alles kein Problem. Wir hatten allerdings mit einem Quartett die Situation, dass es dermaßen eisig war und unvorhersehbar, ob es noch regnen wird, dass wir kurz vor dem Konzert noch ein paar Schirme mit Unterstützung der Mitarbeiter vom Altenheim aufgebaut haben. Als das Konzert dann losging, waren wir alle schon eine riesige gemeinsame Mafia des Guten. Also das war wirklich Teamplay!
Gäbler: Bei unserem ersten Auftritt hatten wir auch viel Spaß mit dem Wind. Der spielt im Konzertsaal natürlich keine Rolle. Uns ist direkt der Notenständer umgeflogen. Damit wir überhaupt spielen konnten, hat der Chef des Heims dort unser Pult festgehalten. Außerdem ist es für den Bogen echt blöd. Er wiegt nun mal nicht so viel und wenn man da ganz leise über die Seiten streichen will, hebt er plötzlich ab oder fliegt von der Saite. Aber ich glaube, man stellt sich dann darauf ein und das schafft wieder Nähe zum Publikum, wenn sie sehen, dass wir uns auf die äußeren Bedingungen einstellen.
terzwerk: Wie nehmen Sie diese Nähe zum Publikum wahr?
Markowski: Das Spielgefühl ist ein ganz anderes. In der normalen Bühnensituation geht das Saallicht aus und der Spot richtet sich auf uns mit der Message “Jetzt ist die Bühne wichtig!”. Momentan ist es das komplette Gegenteil. Entweder ist überall Sonne und warm oder überall Wind und kalt. Alle erleben das gleiche. Beim Lieder-Lieferdienst merken wir auch die Reaktionen des Publikums extrem. Wir kommen unserm Publikum selten so nah. Das ist einfach erfrischend intensiv!
terzwerk: Welche Reaktionen beobachten Sie?
Gäbler: Die Reaktionen sind ganz verschieden. Im Seniorenheim spielen wir zum Beispiel bekanntere Melodien. Die älteren Leute freuen sich immer unglaublich und singen dann mit – total süß!
Außerdem habe ich noch ein anderes Erlebnis im Kopf, als wir bei einer Familie gespielt haben, die sich über die Popwelle MDR JUMP beworben hatte. Da hatten wir dann ein sehr breites Programm mit Tangos, irischer, aber auch klassischer Musik dabei. Es war schön zu sehen, dass die klassische Musik am meisten berührt und das Ehepaar zu Tränen gerührt hat. Diese Erfahrung machen wir bei ganz vielen Konzerten.
terzwerk: Welches Potenzial sehen Sie im Lieder-Lieferdienst für die Zeit nach der Pandemie?
Markowski: Menschen, die vielleicht noch nie im Konzert waren, nehmen uns und unser Publikum möglicherweise oft als elitären Kreis wahr. Wenn wir aktuell die Menschen besuchen, gespielt haben und hinterher noch einen Kaffee angeboten bekommen, sind wir direkt im Gespräch mit unserem Publikum. Man ist plötzlich als ganz normaler Mitmensch viel erfahrbarer. Das ist unsere Chance zu zeigen, dass es eben keine elitäre Kunst sein soll, sondern für alle gedacht ist. Deswegen glaube ich, dass von unserer Seite auf jeden Fall ein positiver Druck da sein wird, in irgendeiner Form weiterzumachen, weil es einfach schade wäre, den Kontakt, den man so schön gewinnt, einfach loszulassen.
Gäbler: Das drängt sich bei mir auch immer auf, wenn wir für Menschen spielen, die gar nicht die Chance haben, in den Konzertsaal zu kommen. Einmal waren wir in einem Pflegeheim mit behinderten Kindern. Für die Kinder dort ist es einfach undenkbar, ein ganz normales Konzert zu besuchen. Bei uns im Probensaal finden schon einige kindgerechte Angebote statt und ich würde mich freuen, wenn wir noch weitere Formate kreieren, wie wir das mit dem Lieder-Lieferdienst geschafft haben. Dann können wir zeigen: „Hey, wir sind für euch da!“
terzwerk: Werden unsere Twenties also doch noch golden?
Gäbler: Wenn wir über die kommenden Jahre sprechen, denke ich das schon. Mit der neuen Spielzeit wird unser neuer Chefdirigent Dennis Russel Davies seinen Amtsantritt haben. Außerdem feiern wir 2024 als ältestes Rundfunkorchester Deutschlands unser 100-jähriges Jubiläum. Ich bin sehr gespannt, was wir daraus machen. Da ist auf jeden Fall wahnsinnig viel Potenzial und vielleicht entsteht dadurch auch die ein oder andere kreative Idee mehr.
terzwerk: Wem würden Sie in dieser Zeit gerne Danke sagen?
Markowski: Für mich beginnt das schon mit den Infomails. Wir erfahren daraus beispielsweise, dass wir auf einer Station mit Wachkomapatienten spielen werden, deren Pflegekräfte coronabedingt absolut am Limit sind. Trotzdem bleiben sie besonnen und erledigen ihren Job mit Liebe und Energie für die Patienten und deren Angehörige. Dann kommen wir da hin und ich frage mich, wie ich das wohl aushalten würde – man bekommt unglaublich viel Respekt vor dem, was so viele zurzeit für andere tun. Auf diese Weise bedanke ich mich auch irgendwie selbst bei denjenigen.
Gäbler: Ein eigenes „Dankeschön-Konzert“ haben wir tatsächlich nach einer Konzerttour für unsere Organisatoren im Hintergrund gespielt. Sie betreiben einen Wahnsinnsaufwand für uns, führen unzählige Telefonate und planen, wer wann wohin fährt. Von unserer eigentlichen Arbeit bekommen sie gar nichts mit und sie wollen natürlich trotzdem davon erfahren. Da war es uns ein ganz großes Bedürfnis, ihnen etwas zurück zu geben.
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Hintergrundbild: © MDR JUMP
Beitragsbild: © MDR Klassik
Foto 2: © MDR JUMP