Das multimediale Musiktheater “Earth Diver” fragt nach dem menschlichen Handeln in Zeiten der Krise. Das ChorWerk Ruhr interpretiert Kompositionen von Nikolaus Brass neben himmlischer Vokalployphonie von Heinrich Schütz, Videoaufnahmen einer trostlosen Zeche am Ende der Welt dienen als Kulisse.
Dieser Ort ist tot. Es gibt kein Licht, keine Wärme, keine Pflanzen, nur eisgrauen Fels. Das Videobild zeigt einen Bergwergstollen, darin steht ein Arbeiter. Lächerlich klein wirkt seine Grubenlampe angesichts der pechschwarzen Finsternis um ihn herum. Dann plötzlich, mitten in diese gottverdammte Einsamkeit hinein, leuchten die Stimmen des ChorWerk Ruhr: „Erhöre mich, wenn ich rufe“ flehen sie, die hoffnungsfrohen Klänge dieses Gebets hat Heinrich Schütz vor rund 400 Jahren erdacht. Selten hat man sie so ersehnt wie in diesem Moment, die gute Botschaft, den Glauben an einen Gott, der uns Menschen aus dem Elend der Welt befreit.
Momente wie dieser stehen charakteristisch für das gelungene Konzept des Regisseurs Wouter van Looys, alte Musik wieder im Kontext ihrer Entstehung zu erleben. Wer weiß schon, dass die Musik von Heinrich Schütz unter dem Einfluss des Dreißigjährigen Krieges entstand, dass ihre paradiesisch funkelnde Frömmigkeit die Kehrseite eines von Leiden und Sterben geprägten Alltags darstellt?
Am Uraufführungsabend des Musiktheaters „Earth Diver“ ist dieser Kontrast omnipräsent. Wouter van Looys stellt die sakrale Musik von Schütz neuen Kompositionen von Nikolaus Brass gegenüber, zerrissene Melodiefäden, die eher Hilflosigkeit charakterisieren, als Heil versprechen. Eine Frage zieht sich wie ein roter Faden durch den ganzen Abend: Wie reagiert der Mensch angesichts des Abgrunds?
Die Filmaufnahmen des Videokünstlers Wim Catrysee wurden in einer Zeche nahe des Nordpols gedreht, deren Verfall angesichts ausbleibender Exporte nur noch eine Frage der Zeit zu sein scheint. Trotzdem graben die Kumpels weiter, unermüdlich. Das Bergwerk steht in dieser Inszenierung sinnbildlich für das Phänomen, von der menschlichen Raffgier in lebensbedrohliche Sackgassen getrieben zu werden. Im ehemaligen Salzlager der Zeche Zollverein in Essen, dem Spielort an diesem Abend, wirken diese Bilder äußerst vertraut, im Museum nebenan hängen ähnliche. Das Ruhrgebiet kennt die Profitgier aus der eigenen Geschichte ebenso wie den Verfall einer Region nach dem Rausch.
Aus der Mitte der Halle wächst ein verschachteltes Baustellengerüst in die Höhe, wie Flügel einer Windmühle ragen Video-Leinwände daraus hervor. Auf Podesten darunter sitzen Dirigent und die Musiker des B’Rock-Orchestra: Chorleiter Florian Helgath gegenüber von Organist David Van Bouwel, Lautenist Tom Devaere auf der einen, Wim Maeseele an der Violone auf der anderen Seite. Das Publikum umschließt die Szenerie kreisförmig, erlebt also je nach Sitzplatz ein anderes Bild. Diese ungewöhnliche Raumaufteilung hat zur Folge, dass kein Platz mehr als zehn Meter vom Geschehen entfernt ist, was nicht nur die visuellen Eindrücke intensiviert. Der Chor singt sowohl vor dem Publikum, als auch hinter und zwischen ihm, man erlebt faszinierende Raum-Klang-Effekte.
Auf der Spitze des Turms, auf einem drehbaren Stuhl, thront der Vocalist Phil Minton – er vertont nicht nur den Sprechertext des belgischen Schriftstellers Paul Verrept, sondern wispert auch Windgeräusche ins Mikrophon oder wimmert Klagelieder, während im Hintergrund ein melancholisches Ostinato der Continuo-Gruppe seine Kreise zieht. So klingt Einsamkeit.
Grundlage des Textes sind moderne Philosophien von Peter Sloterdijk und Slavoj Žižek. Während Sloterdijk in „Du musst dein Leben ändern“ dazu aufruft, an Stelle fremder Heilsfiguren das Individuum selbst zur obersten Autorität zu erklären und damit jede Form von Religion als Irrweg verurteilt, vergleicht Žižek in „Living in the End Times“ das Krisenmanagement unserer Gesellschaft mit der Reaktion eines Patienten nach Diagnose einer tödlichen Krankheit. Phase 1: Man ignoriert das Problem. Weil es aber nicht einfach verschwindet, tritt irgendwann Phase zwei ein: Wut. Anschließend versuche der Patient in verzweifelten Verhandlungen, doch noch einen Ausweg zu finden, was – da vergeblich – zur Depression in Phase vier führt. Am Ende bleiben nur noch die Akzeptanz der Situation und ein Neubeginn. Klar, dass man Elemente aus allen diesen Phasen im aktuellen Weltgeschehen beobachten kann.
In „Earth Diver“ durchwandert das Publikum diesen Kampf mit dem Schicksal auf mehreren Ebenen. Bildlich dienen stumpfsinnig schuftende Kumpels oder trostlose, von Schnee verwehte Industrieanlagen als Kulisse. Die Musiken von Heinrich Schütz und Nikolaus Brass liefern dazu jeweils die emotionalen Zwischentöne. Während die Renaissance-Gesänge eine bessere Welt herbeisehnen, schnattern bei Brass aufgebrachte Stimmgruppen im Zorneskampf um die Wette, verirrte Melodien suchen im skurrilen Stimmgeflecht erfolglos eine einheitliche Richtung, manchmal klatschen die Sänger auch energisch in die Hände, als wollten sie die Menschheit aus der Lethargie erwecken. Man staunt, wie gut und schnell es den Sängern gelingt, zwischen Brass und Schütz zu wechseln, die Kontraste sind scharf, und damit umso wirkungsvoller. Ein so flexibles Ensemble, das nicht nur zur lupenreinen, homogenen Gemeinschaft verschmelzen kann, sondern darüber hinaus auch über hervorragende Solostimmen verfügt wie das ChorWerk Ruhr, hört man selten.
Dass das Dröhnen einer Maschine manchmal gewaltsam über die Musik herfällt oder Phil Mintons Schmerzensschreie den Wohlklang ausklingender Harmonien zerstören, mindert die Wirkung der Performance nicht, sondern unterstreicht den Kontrast der Ebenen zusätzlich. Man fühlt sich hin und her gerissen zwischen Hoffnung und Beklemmung, zwischen göttlichen Heilsversprechen und gnadenloser Endzeitstimmung. Am Ende bleibt ein Gefühl der Verwirrung zurück. Und die Frage, woran man heute eigentlich noch glauben darf.