Text, Text, Text: Das Konzert Minor Music bei den Donaueschinger Musiktagen wollte Meisterwerke reduzieren, doch verringert wurde vor allem der Musikanteil. Ida Hermes ist immer noch überfordert.
Ein Offizierskasino auf einem alten Kasernengelände, 23 Uhr. Heiße Luft und rotes Licht wabern in die Dunkelheit. Eine breite Doppeltür gewinnt an Kontur, hindurch führen Treppenstufen weit nach innen. Ein komischer Ort. Zwischen leeren Türrahmen kleben Plastikplanen und Absperrbänder, halten Wache, verwehren den Zutritt. Endlich ein Durchgang. Holzpartikel schwirren in der muffigen Hitze, zeugen von Geistern, die sich in den Kerben und Rillen des hölzernen Bodens eingenistet haben. Von der Wärme erweckt flüstern und wispern sie alte Geschichten. Nationalsozialistische Vergangenheit dringt dem Gebäude aus allen Fugen.
Was kann man Musik antun? Hinter dem Konzertprogramm Minor Music stehen allerhand philosophische Fragen. Sie kreisen um Meisterwerke als Institutionen und äußern den Anspruch, sie durch Ironie und musikalische Reduzierung vom Sockel zu heben. „Es geht darum, Meisterwerke in eine unmögliche Situation zu bringen. In einen kleinen, improvisatorischen und provisorischen Rahmen, vorgetragen von immer nur einer Person, mit einfachsten Mitteln.“ Komponist Alexander Waterman empfindet diese Verkleinerung als umgekehrten Blick durch ein Fernglas: Anstelle der Vergrößerung erscheint eine Miniaturansicht. Musikalisch ermögliche das einen Blick auf die Grundstrukturen.
Bluegrass und Kletten
Im Ballsaal des Offizierskasinos hängen zwei schwere Leuchter. Holzringe, mit kugelförmigen Lampen besetzt. Matt scheinen sie durch den Rahmen einer Doppeltür. Aus dem Dunkel flattert ein fliederfarbenes Hemd herein. Eugene Chadbourne steckt darin, ein ergrauter Mann mit Banjo und Bäuchlein, der erste Komponist des Abends. German Country and Western heißt sein Stück, eine Bearbeitung der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach. Warm erzittert die starre Luft, Beklemmung und Schauergefühl verebben. Chadbourne versinkt in eine Art Trance. Er steht nur da, vor seinem Notenblatt, spielt ganz für sich allein. Mehr Bluegrass als Bach, aber unbegreiflich atmosphärisch.
Doch dann kommt es wieder, das Unbehagen. Mit Barbara Kinga Majewska betritt es den Raum. Maschinenhaft fixieren ihre Augen die Leere, ein Gefühl tiefer Bedeutsamkeit heraufbeschwörend. Ein Lexikoneintrag über Klettenpflanzen gleitet über ihre Lippen. Ohne Makel und ohne jede Gefühlsregung. Es folgen allerhand paradoxe Texte und Melodien, die sie in Endlosschleife wiederholt. Isolde, Brangäne und Marke ist eine Bearbeitung von Richard Wagners Oper Tristan und Isolde. Ein sehr eigenes Stück, das leider weit zu abstrakt ist, um viel daraus mitnehmen zu können.
Zu viel des Guten
Lichtwechsel. Oberhalb der Doppeltür wird ein seltsamer Ausschnitt sichtbar. Gleich einer Veranda durchschneidet er die Wand. Alexander Waterman tritt ans Geländer und blickt auf sein Publikum hinab. Dann beginnt er zu rezitieren. Eine Dreiviertelstunde lang. Wie ein Prediger hebt er seinen Zeigefinger, während die Sätze schneller über seine Lippen fliegen als der Verstand sie erfassen kann. Darunter elektronische Klangflächen und eine bunte Lichtshow, die den Nazi-Tanzsaal in einen sektenhaften Kirchenraum verhext. Ist das noch Musik? Waterman gibt sich alle Mühe, seine Sprache durch Rhythmik und Melodik zu strukturieren. Und doch erinnert es mehr an eine Rede als eine Komposition. Urantia! Urantia! war als Reduktion des 29-stündigen Licht-Zyklus von Karlheinz Stockhausen gedacht, bis die Stockhausen-Stiftung für Musik Waterman vor drei Wochen ihr Veto ausgesprochen hat. Mit viel Ironie kritisiert er nun Stockhausens Inspirationsquelle: ein religiös-pseudowissenschaftliches Buch namens Urantia (1955). In ihm leben Ideen fort, die eigentlich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begraben worden waren. Nirgendwohin könnte dieses Thema besser passen, als in ein Gebäude, das die Nationalsozialisten 1937 errichtet und lange Jahre genutzt haben. Nur mit der Meisterwerk-Thematik hat all das wenig zu tun. Davon bleibt am Ende nur eins: Das Gefühl, viel gehört und wenig verstanden zu haben.