Von Konzertsälen und Dancefloors

Wirkliche Lust verspüre ich nicht, als ich mich am Samstagmorgen auf den Weg zum Detect Classic Festival in Berlin mache. Es ist eindeutig zu früh, im Schatten sind es schon 30 Grad und meine Airbnb-Unterkunft liegt quasi am anderen Ende Berlins.
Die junge norddeutsche philharmonie, die auch die zweite Ausgabe des Klassik-Festivals ausrichtet, hatte sich mit dem Berliner Funkhaus eine abgelegene Location ausgesucht, weg von der Großstadt und der Hektik, ganz bei der Musik.
Auf dem Detect Classic Festival gibt es deshalb auch keinen Zeltplatz, keinen Glitzer im Gesicht und keine Menschen in lustigen Kostümen, wie es sich vielleicht von anderen Festivals im Kopf festgesetzt hat. Im Mittelpunkt steht die Musik und die besondere Atmosphäre der Konzertsäle, die vielmehr an einen schicken Abend mit Anzug und Fliege erinnern als an einen zweitägigen Musikmarathon.

Besonders ist hierbei die Kombination aus klassischer und elektronischer Musik, die überall während der Konzerte hergestellt werden soll und auch spürbar ist. Klassische Musik im Konzerthaus und Techno im Club – denkste! Die beiden verschiedenen Stilrichtungen vermischen sich ohne Probleme, umspielen sich gegenseitig, pflanzen sich fort, werten sich auf und verändern sich gegenseitig.

Bis in die frühen Nachmittagsstunden ist das Foyer des Funkhauses noch leer und wirkt ein wenig wie der Eingangsbereich eines Hotels – nur kurz die Schlüssel abholen und dann zurück zum Zimmer schlurfen. Was um einen herum passiert, das ist egal.
Doch eigentlich könnte jetzt schon getanzt werden. Der erste Act des Tages, Sofia Ilyas, sorgt mit sphärischen und sich ständig veränderten Trance-Beats für eine gelockerte Stimmung. Die Musik ist wunderschön und ich höre gerne zu. Ein weißer Luftballon – wie sich später herausstellt, gehört dieser auch zu einer Performance – wiegt ein wenig im Takt hin und her.

Ballons

Auch beim Neophon Ensemble sind die Sitzreihen noch längst nicht gefüllt.
Die dissonant-virtuosen Klänge des Musikerkollektivs sind es allerdings allemal wert, ein Ohr zu riskieren. Die Besetzung (diesmal Violine, Violoncello, Klarinette und Klangregie) und das Programm der Musiker wechseln ständig, im Funkhaus wurden Eigenkompositionen und unter anderem auch ein Stück von Johann Sebastian Bach präsentiert. Beim abschließenden „Trio 4“ von Konstantin Heuer wurde außerdem zum ersten Mal die erwünschte Mischung von klassischer Musik und elektronischen Elementen hörbar. Ein pulsierender und knisternder Elektrosound und eine elegische Klarinettenmelodie entließen das Publikum in die nächsten Konzerte.

Die Vorstellung des Bundesjugendballetts, das musikalisch von der Jungen Norddeutschen Philharmonie begleitet wurde, stellt einen frühen Höhepunkt dar. Die Bewegungen der Tänzer sind punktgenau und bestaunenswert, die Choreografien nahbar und emotional. Mit „Unreliable“ gibt es heute sogar eine Premiere auf dem Festival zu sehen, die musikalisch von den abstrakten Klängen Alban Bergs untermalt wird. Wer bei Ballett immer noch an Schwanensee, eingestaubte Choreographien und Pirouetten denkt, der wurde hier definitiv eines Besseren belehrt.

Ebenso höhepunktverdächtig: Die Konzerte von OMGSchubert und dem STEGREIF.orchester. Hinter OMGSchubert stecken Justus Wilcken und Konstantin Dupelius, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Schubert-Lieder zu bearbeiten, die auch heute noch aktuelle Relevanz besitzen. Dabei streifen sie düstere Electronica-Elemente über das Liedgewand und instrumentieren es zusätzlich mit Synthesizer und Gitarre. Schuberts Lieder erlangen dadurch eine noch größere Tiefe und erreichen eine solche Prägnanz und Dringlichkeit, dass sie auch in großen Mehrzweckhallen ihren Mehrwert hätten und nicht nur in Konzertsälen gut klingen würden.

Ganz anders das STEGREIF.orchester: Kein Dirigent, keine Noten, nicht einmal ein fester Ablauf. Auf dem aktuellen Programm steht zwar die dritte Sinfonie von Johannes Brahms, durch das Konzept des Musikerkollektivs ist davon allerdings gar nicht so viel zu erkennen. Die 30 Musiker schätzen nämlich nicht nur die klassische Musik, sondern auch die freie Improvisation. So wird das Stück immer wieder von freien Solisten, wie man sie sonst nur aus dem Jazz kennt, unterbrochen. Hinzu kommt die Performance der Musiker, die während des Stücks auch gerne mal wie wild geworden durch den Saal rennen. Das Publikum und ich sind begeistert – in der klassischen Musik ist das einmalig.
Den Abschluss des Konzerttages macht die junge norddeutsche philharmonie, die zu Recht für ihre Darbietungen von Dmitri Schostakowitschs 12. Sinfonie und „Till Eulenspiegels lustige Streiche“ von Richard Strauss mit Standing Ovations bedacht wurde.

Doch ein richtiges Festival endet nicht vor den Bühnen. Auf einem richtigen Festival wird auf dem Campingplatz munter weiter gefeiert, bis am nächsten morgen die Sonne aufgeht. Auf dem Detect Classic funktioniert dieses ungeschriebene Konzept ganz genauso. Die edlen Bühnen verwandeln sich in DJ-Kanzeln und die Böden aus Marmor verwandeln sich in Dancefloors, in der Luft liegt Nebel und das bunte Licht scheint im Bass zu pulsieren. Bis 9 Uhr morgens bietet das Festival seinen Besuchern die Gelegenheit, sich die angestaute Sommerhitze aus den Körpern zu tanzen, bevor es am nächsten Tag mit einem Mix aus elektronischer Musik und Klassik weitergeht.

Ich hingegen fahre schon früher zurück, der letzte Nachtbus kommt 20 Minuten vor eins und meine Füße haben heute definitiv ihren Dienst getan. Ein Lied von Schubert pfeifend komme ich in Berlin-Pankow an. Das Detect Classic Festival hat einen Fan dazugewonnen.

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