Das wird ganz einfach, haben sie gesagt

Die Suche nach meiner persönlichen Hymne

Jede Nation hat ihre Hymne. Aber was ist mit uns? Haben wir auch eine “persönliche Hymne”? terzwerk begibt sich auf die Suche und stellt jede Woche eine persönliche Hymne vor.

Die Suche nach meiner persönlichen Hymne wird ganz einfach, haben sie gesagt. Und jetzt? Bin ich im italienischen Auslandspraktikum und die erste „persönliche Hymne“, die mir einfällt, ist eine, deren Titel ich noch nicht mal richtig aussprechen kann. Aber er passt einfach perfekt zur momentanen Mood, ohne dass ich ein Wort des Textes verstehe. Es ist I Say I’ Sto Ccà von Pino Daniele.

Nach einigem Grübeln fällt mir natürlich auch etwas Persönlicheres ein.
Die steigende Spannung der ersten Paukenschläge von Beethovens Violinkonzert waren damals im Jugendorchester kaum auszuhalten. Niemand wollte danebengreifen, alle den perfekten Teppich für die Sologeige schaffen – das vergesse ich nie.
Aber Beethovens Violinkonzert als meine persönliche Hymne? Das klingt eher nach Anne-Sophie Mutter und so gut spiele ich dann doch nicht Geige.

Vielleicht gehe ich lieber über den Text, das erscheint mir passender. Haben nicht alle eine ultimative gute-Laune-Line?
Bei mir wäre das auf jeden Fall Just direct your feet on the sunny side of the street aus dem gleichnamigen Jazz-Standard. Am liebsten in Esperanza Spaldings Version, niemandem kaufe ich den Satz so ab wie ihr.
Andererseits ist mein Leben auch nicht immer „sunny“ und Debussys Klavierwerke die Einzigen, die mir zuverlässig Trost spenden. Egal wann, egal wo und das wieder ohne Text. Der erste Ton erklingt und ich muss einfach hinhören, tue nichts anderes mehr.

Ich frage auch andere nach ihrer Einschätzung (auch wenn für mich dabei keine persönliche Hymne herausspringen wird):
Meinem Freund fällt als erstes Gracias a la vida in der Version von Mercedes Sosa ein und meiner Mutter der Titelsong von Disneys Pocahontas. Ein politisches Protestlied aus Argentinien und ein pan-humanistischer Lobgesang von Disney. Für das eine bin ich zu jung, für das andere zu weiß, also wieder kein Potenzial zur persönlichen Hymne.
Der Algorithmus von Spotify spuckt auf Nachfrage Buena Vista Social Club aus. Das lief auf meinem Account in den letzten acht Jahren wohl am meisten. Falls ich eine Band zur persönlichen Hymne deklarieren dürfte, wären sie es.

Vielleicht ist eher das Ausschlussprinzip eine Option. Die Songs von Endstufe, zum Beispiel, sind für mich weder persönlich noch hymnisch, genauso wenig wie die von Stahlgewitter oder Hassgesang. Sie werden wohl nie in die engere Auswahl kommen.
Da schreibe ich mir lieber eigene Musik. Wobei erst mal komponieren lernen, um eine persönliche Hymne zu haben, auch wieder kompliziert klingt.

Beim weiteren Nachdenken fällt mir noch Gerhard Stäbler ein. Besonders in Erinnerung ist mir vor allem sein Konzept von „Hart auf hart.“ geblieben:

“„Hart auf hart.“ entwickelt […] musikalisch aus Konfrontation eine Anleitung zum genauen (Zu)hören
und zum kommunikativen Umgang mit akustischem Material.”
Gerhard Stäbler, “Hart auf hart.”, 1986

1986 erscheint die Komposition, in der die beteiligten Künstler*innen auf Grundlage einer Grafik improvisierend aufeinander reagieren. Die Musik wird dem Moment überlassen, die Kommunikation untereinander hat höchste Priorität. Jedes Mal erklingt etwas anderes, je nachdem wer mitspielt.
Sehr unkonkret für eine persönliche Hymne, aber mit überzeugender Quintessenz. Musik in Abhängigkeit von Zeit und Mensch. Quasi eine variable persönliche Hymne je nach Lebensabschnitt?

„Ganz einfach“ ist es mit DER persönlichen Hymne auf jeden Fall nicht.
Aber dafür sehr erkenntnisreich: Meine persönliche Hymne passt in meine Gegenwart und hat gleichzeitig etwas mit meiner Vergangenheit zu tun. Sie berührt mich mal mit, mal ohne bedeutungsvolle Textpassagen. Meine Familie, der Algorithmus und ich erkennen mich in ihr wieder. Und auch wenn ich sie nicht selbst schreibe, ist sie ein Spiegel meiner Prinzipien.

Komponist*innen unter Euch, die damit etwas anfangen können? Sonst bleibt es vorerst beim bisherigen Potpourri.
Ganz klar ist eigentlich nur, die Suche ist noch nicht vorbei.

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