Das Adagio der digitalen Revolution

Schlüssel, Portemonnaie, Handy – Handy?! Wer kennt ihn nicht, den Schockmoment, wenn man das Haus verlässt und das Smartphone im Badezimmer vergessen hat. Passiert selten, aber wenn es passiert, löst es nicht nur bei Millenials und digital natives Nervosität aus. Wir sind diesem kleinen Gerät so sehr verbunden, dass wir täglich mehr als drei Stunden Zeit mit ihm verbringen. Deswegen ist es umso wichtiger, die Technologien weiter auszubauen und an verschiedene Lebensbereiche anzupassen, um einen sinnvollen Nutzen daraus zu ziehen. Durch den täglichen Konsum von digitalen Medien verändern sich Interessen und Verhaltensweisen fortlaufend, was die direkte Folge des hohen Maßes an neuen Möglichkeiten ist. Der gezielte Einsatz von digitalen Ressourcen bietet in verschiedenen Kontexten eine sinnvolle und notwendige Erweiterung. Eine dieser zahlreichen Möglichkeiten ist die Anwendung von Augmented Reality (kurz AR).

© FunkyFocus auf Pixabay

Augmented Reality ist die Erweiterung des eigenen Blickfeldes durch technische Methoden. Maßgeblich dabei ist, dass sich diese Art der Technologie – im Gegensatz zu Smartphones oder Laptops – uns anpasst und nicht andersherum. Dabei ist wichtig zu unterscheiden: AR ist nicht das gleiche wie Virtual Reality. Bei der Nutzung von Virtual Reality entsteht durch das Tragen von speziellen Brillen eine imaginäre, komplett inszenierte Umgebung, die von der analogen Umgebung entkoppelt ist. Augmented Reality hingegen ist die Ergänzung von 2D oder 3D Grafiken, Texten Bildern oder Videos zu der realen Welt, in der wir uns befinden. Mithilfe von technischen Geräten, z.B. speziellen Brillen, aber auch allein mit dem Smartphone oder Tablet können verschiedene virtuelle Elemente, die mit der realen Umgebung interagieren, die Wahrnehmung erweitern. Technisch geht es also vor allem um eine Positionierung von virtuellen Objekten, Subjekten und/oder computergenerierten Zusatzinformationen in einem realen Raum.

Wie sieht AR in der Praxis aus?

Im Flugbereich wird Augmented Reality schon länger eingesetzt, wobei dem*der Pilot*in beispielsweise während des Fluges digital Informationen eingeblendet werden. Sogenannte Head-Up-Displays ermöglichten den Kampfjetpiloten in den 70er Jahren Flugdaten zu lesen, ohne den Blick zu senken. Die erste AR-Brille fand ihre Anfänge in den USA, entwickelt vom Informatiker Ivan Sutherland, in der zusätzliche Informationen eingeblendet wurden. Sie war allerdings nur mithilfe des riesigen Computers, an dem sie angeschlossen sein musste, nutzbar.

In der Medizin bietet Augmented Reality bei Operationen am Gehirn mehr Sicherheit und medizinische Innovation, da Chirurg*innen beispielsweise die einzelnen Abschnitte des Organs über ein Hologramm in 3D sehen können. Hier steht also die Unterstützung der auszuführenden Tätigkeit im Vordergrund. Etwas alltagstauglicher findet man Augmented Reality heute beispielsweise in der Fernsehübertragung von Fußballspielen, beim Abseitscheck. Die Linie, die ins Feld eingezeichnet wird, ist virtuell und somit eine simple Form von AR.

Mit der Entwicklung des Smartphones begab sich die Augmented Reality auf ein anderes Level. 2011 startete die App Snapchat durch, mit der im Selfie-Modus das eigene Gesicht durch projizierte Grafiken verändert – also die Realität erweitert – werden kann. In Echtzeit passt sich ein Filter an die eigene Mimik an: Plötzlich hat man Katzenohren auf dem Kopf oder eine Hundezunge aus dem Mund hängen. Warum das gefühlt einer ganzen Generation so viel Spaß macht, das bleibt an dieser Stelle offen. Den ersten größeren, bis heute anhaltenden Erfolg gab es 2016 mit Pokémon GO. Ziel ist es, Pokémons in seiner realen Umgebung zu suchen, die auf der Karte im Smartphone angezeigt werden. AR is ready to go mainstream (zumindest für Unterhaltungszwecke)!

In der weniger massentauglichen Kulturszene gibt es auch schon erste Annäherungsversuche. Voraussetzung für den effektiven Nutzen der Augmented Reality im Bereich der Kulturvermittlung ist wohl eine offene Bereitschaft für digitales Interagieren seitens des klassischen Konzertbetriebs. Durch AR Elemente entwickelt sich nämlich ein neuer Fokus. Dieser ist inhaltlich erstmal nicht festgelegt, sondern hängt von der jeweiligen dramaturgischen Entscheidung ab, aber es wird eine andere, neue Ebene geschaffen.

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Grundlegend betrachtet gibt es zwei Ebenen von Augmented Reality. Musik allein bedient eine dieser Ebenen im auditiven Sinne. Schaut man ganz banal auf das Phänomen Musik, stellt man fest, dass sie in ihrer reinen Form unser alltägliches Leben erweitert. Musik verstärkt immerhin in den verschiedensten Momenten und Situationen unsere Wahrnehmung. Hören wir den Pachelbel Kanon, schießen uns bestimmte Bilder durch den Kopf. Das menschliche Gehirn reagiert auf Musik in Form von Gänsehaut, Tränen oder anderer körperlicher Reaktionen. Wie intensiv kann dann das Erlebnis werden, wenn die andere, digitale Ebene der AR im Konzertbesuch zum Einsatz kommt? Wenn zusätzlich zu der auditiv erweiterten Realität gleichzeitig die visuelle Realität erweitert wird? Die Dimensionen sind schwer vorstellbar.

Theoretisch sind der Kreativität für AR Projekte keine Grenzen gesetzt. Wenn das Ausmaß an digitalen Möglichkeiten allerdings schwer fassbar ist, sieht das in der Praxis gar nicht so einfach aus. Wie entwickelt man Ideen für etwas, was man nicht wirklich durchblickt und was die Vorstellungskraft sprengt? Fachwissen im Kulturbereich und Digitalkompetenz müssen miteinander verschmelzen. Die Symbiose von Wissenschaftler*innen und Programmierer*innen, die aus verschiedenen Perspektiven blicken, ist notwendig für die Umsetzung von AR Projekten in Kulturinstitutionen.

© Mohamed Hassan auf Pixabay

Das virtuelle Quartett

Als eine der ersten Institutionen der Klassikbranche hat das Konzerthaus Berlin in enger Zusammenarbeit mit der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin die Augmented Reality App Konzerthaus plus entwickelt. Dort kann man durch das Scannen von Bildern bereitgestellter pdf-Dokumente z. B. einen Einblick hinter die Türen des Konzerthauses bekommen. Es erscheint auf dem Bildschirm, und durch Klicken lassen sich einzelne Teile des Hauses näher anschauen und Informationen einblenden. Man kann sich einen Überblick über die verschiedenen Säle schaffen und erfahren, welche Raumakustik für welche Musik am besten geeignet ist. Das Highlight der App ist das virtuelle Streichquartett. Dazu gibt es auch einen pdf-Vordruck, bestehend aus vier Spielkarten – 1. Geige, 2. Geige, Bratsche und Cello. Scannt man diese mit der App, erscheinen die vier Musiker*innen dreidimensional auf dem Handybildschirm und beginnen zu spielen. „Der Tod und das Mädchen“ von Franz Schubert ertönt in überraschend guter Qualität. Die Stimmen wurden durch eine spezielle Audioaufnahmetechnik getrennt voneinander aufgenommen, wobei die Musiker*innen sich trotzdem gleichzeitig gegenseitig hören konnten, damit die musikalische Qualität entsprechend beibehalten werden konnte. Diese aufwendige Aufnahmetechnik hat den Zweck, dass die einzelnen Spielkarten auch getrennt voneinander funktionieren. Scannt man nur die Cellokarte, ertönt auch nur das Cello. Scannt man alle, bis auf die Bratschenkarte, kann man zuhause selbst Bratsche spielen oder zumindest hören, welche Rolle sie im Quartett einnimmt.

Streichquartett auf dem Küchentisch ©Lisa Wolkow

Das virtuelle Streichquartett auf dem Küchentisch ist aber – so sehr es doch fasziniert – erst der Anfang von Augmented Reality in der Kulturszene. Der Spaßfaktor beim Eintauchen in die Welt der klassischen Musik steht hier im Vordergrund. Die Nutzungsfreundlichkeit ist verglichen mit anderen Apps noch ausbaubar. Die Möglichkeiten sind noch nicht ausgereift und das Potenzial noch nicht ausgeschöpft. Verknüpfungen von Klassik und technischer Innovation sind rar. Das liegt einerseits an fehlenden Ressourcen wie Zeit und Geld, andererseits herrscht in vielen Betrieben immer noch eine Abneigung gegenüber digitalem Aufschwung und der aufwendigen Auseinandersetzung mit neuen Technologien.

Die Behauptung, digitale Erweiterungen würden dazu führen, dass irgendein Original ausstirbt, oder Menschen durch Maschinen ersetzt werden, ist nicht gerechtfertigt. Ein reales Konzerterlebnis ist zu vielseitig, um durch Technologien ersetzt zu werden. Es geht dabei um Erlebniskultur, um materielle Wahrnehmung der Instrumente, um die Aura, mit Künstler*innen und Publikum zusammen an einem realen Ort zu sein. Außerdem bleibt Augmented Reality grundlegend erstmal Mathematik. Sie ersetzt keine Menschen und kann keine kreativen Prozesse entwickeln, es bleibt eine Computertechnik. Diese Technik bedarf aber sowohl einer Menge konzeptioneller und redaktioneller Arbeit als auch der Expertise kreativer Menschen. Wenn das gegeben ist, kann AR durchaus als Instrument für eine erweiterte Kulturvermittlung genutzt werden, bei der besonders die Generation der digital natives getriggert wird. Einen Mehrwert kann es nur durch ein nachhaltig durchdachtes Konzept geben.

Wie kann das aussehen? Who knows…

Möglich ist eine museale Annäherung an klassische Musik. In einigen Museumsbetrieben ist Augmented Reality schon zum festen Bestandteil geworden. Die Rede von erfahrbarer Kunst ist nichts Neues mehr. Das ist auf digitale Ebenen übertragbar. Vorstellbar ist eine Konzerteinführung im musealen Stil. Ein Audioguide-Rundgang durch das Foyer des Konzerthauses, begleitet von Augmented Reality-Elementen. In welchem Rahmen spielte Mozart seinerzeit Konzerte? Welche historischen Instrumente sind heute auf der Bühne und wie unterscheiden sie sich von den modernen? Wie wild und unordentlich hat Beethoven seine Kompositionen niedergekritzelt? Bilder und Informationen, die in Zukunft als erfahrbare Teile eines Konzertbesuchs vorstellbar sind.

Digitale Kulturvermittlung heißt: mediale Zugänge zu Wissen schaffen.

Der Einsatz von Augmented Reality in der Kulturszene kann vor allem dazu dienen, vertiefendes Wissen und Inhalte zu vermitteln, den Zugang dazu zu erleichtern und ein neues Kulturerleben zu ermöglichen. Die AR kann ein Weg sein zu kommunizieren, spielerisch zu lernen und Gelerntes weiterzugeben. Ziel sollte es sein, durch Immersion den erlebten Inhalt zu erweitern oder intensivieren. Die reale Szenerie und die zusätzlichen Inhalte sollten sich gegenseitig ergänzen. Inwieweit das in der Praxis in den nächsten Jahren umgesetzt wird, hängt vor allem von den Institutionen ab, denen die Ressourcen für die digitale Vermittlungsarbeit zur Verfügung stehen. Die Kulturstiftung des Bundes hat den Fonds Digital ins Leben gerufen. Im Rahmen des Programms Kultur Digital werden damit entsprechende Projekte und Ideen im Zeitraum von 2020-2024 gefördert. Die meisten der geförderten Institutionen sind Museen – Theater und Opernhäuser machen nur einen kleinen Teil aus. Digitale Innovationen sind immer noch hauptsächlich an Projekte gebunden. Für eine nachhaltige Veränderung sollten Institutionen für feste Stelleneinbindung gewillt sein. Der digitale Wandel in Kulturinstitutionen ist noch zäh und verläuft in mäßigem Tempo, aber er hat eine vielversprechende Expedition vor sich.

Hier geht’s zum Scan für  u.a. das virtuelle Streichquartett!

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