Der diesjährige Internationale Schostakowitsch-Preis geht an Andris Nelsons. Der lettische Dirigent ist mit 40 Jahren der jüngste Preisträger in einer illustren Liste von Künstlern, die sich besonders um Schostakowitschs Musik verdient gemacht haben. Wir treffen Andris Nelsons dort, wo Dmitri Schostakowitsch 1960 mit dem 8. Streichquartett sein wohl persönlichstes Werk komponiert hat – auf der Bank der Bänke in Gohrisch.
terzwerk: Warum haben Sie sich dazu entschlossen mit dem Boston Symphony Orchestra einen Schostakowitsch-Zyklus aufzunehmen?
Andris Nelsons: Schostakowitsch ist für mich, und viele andere, einer der aufregendsten und interessantesten Komponisten aller Zeiten. Die Idee war auch ursprünglich nicht eine Aufnahme, sondern in Boston all seine Symphonien aufzuführen, da Schostakowitsch dort bisher nicht so viel gespielt wurde. Jede seiner Symphonien ist wie eine Perle. Deshalb finde ich es sehr schade, dass manche etwas untergehen. Dann kam es dazu, dass die Deutsche Grammophon Interesse an einer Aufnahme hatte und ich musste die Gelegenheit unbedingt nutzen. Ich habe bei den Konzerten gemerkt, dass viele Leute, die vorher nichts mit Schostakowitsch zu tun hatten, jedes Jahr wiedergekommen sind, wenn wir die nächste Symphonie aufgeführt haben. Das freut mich sehr, weil es zeigt, dass sich durch diesen Zyklus das Publikum, das Schostakowitsch akzeptiert und wertschätzt, vergrößert. Viele nehmen diese Art von Musik als zu kompliziert, zu düster, zu sowjetisch wahr. Aber dies zeigt, dass das nicht stimmt.
terzwerk: Was gefällt Ihnen an Schostakowitsch so gut?
Andris Nelsons: Seine Musik spricht mit jedem. Man sollte sie nicht überpolitisieren, am Ende ist es einfach geniale Musik. Eigentlich kann man es nicht vergleichen, aber er ist ein bisschen wie ein russischer Mozart. Er hatte auch alle seine Melodien im Kopf und musste sie nur niederschreiben. Alles, was Schostakowitsch geschrieben hat, ist absolut genial. Egal ob Symphonie, Kammermusik, Filmmusik oder Musik für Cartoons, in jedem seiner Werke spürt man seine besondere Handschrift. Er berührt auf unmittelbare Art und Weise. Schostakowitsch hatte seine Kompositionsideen die meiste Zeit im Kopf und musste sie nur noch niederschreiben. Er hat in einer unglaublich schwierigen Zeit gelebt. Er war kurz davor von Stalin beseitigt zu werden, doch er hat es geschafft zu überleben und diese wundervolle Musik zu schreiben. Seine Musik hat meistens einen doppelten Boden, der die Regierung glauben lassen hat, er würde das Regime verherrlichen, während er eigentlich genau das Gegenteil getan hat.
terzwerk: Warum ist seine Musik auf inhaltlicher Ebene heute noch relevant?
Andris Nelsons: Schostakowitsch hat mit seinen Symphonien die Zustände seiner Zeit protokolliert, die Schreckensherrschaft unter Stalin, die Weltkriege, die Revolution. Ich denke, es gibt Parallelen, zwischen seiner Zeit und dem was gerade passiert. Der Zyklus der Zeiten wiederholt sich. Deshalb ist es wichtig, auch heute Schostakowitsch zu hören, da seine Musik einen förmlich dazu drängt, über das Weltgeschehen nachzudenken.
terzwerk: Wie ist es für Sie, heute auf dieser Bank zu sitzen?
Andris Nelsons: Das ist etwas sehr Besonderes. Ich denke, es ist immer faszinierend an Geburtsorten oder Wirkungsstätten von Komponisten zu sein. Bei Mahler und Beethoven in Wien, Mendelssohn in Leipzig… Ich glaube, dass der Geist von Schostakowitsch hier gerade irgendwo präsent ist. Wir müssen diese Orte wertschätzen und den Menschen davon erzählen.
terzwerk: Im Konzert haben Sie uns eben mit einem Stück für Trompete von Schostakowitsch überrascht. Sie haben lange nicht mehr öffentlich gespielt. Wie fühlt sich das für Sie an?
Andris Nelsons: (lacht) Ich würde es nicht spielen nennen, es war eher einfach nur Luft in die Röhre blasen. Früher war ich professioneller Trompeter und habe viel Schostakowitsch im Orchester gespielt. Dann habe ich aber mit dem Dirigieren angefangen und es blieb keine Zeit mehr für mein Instrument. Ungefähr 16 Jahre habe ich nicht gespielt. Dann hat mir der größte Trompeter der Welt, Hakan Hardenberger, eine Trompete geschenkt. Ich habe gemerkt, wie meine Lippenspannung sich im Laufe der Jahre komplett abgebaut hat, aber die Finger wissen noch was zu tun ist. Langsam habe ich dann wieder angefangen zu üben und erkannt, dass es auch etwas sehr Entspannendes hat. Ich genieße es mittlerweile wieder als Hobby. Aber für meine Karriere als Dirigent hat mir meine Zeit mit der Trompete im Orchester wahnsinnig geholfen, um zu verstehen, wie sich die Musiker eigentlich fühlen. Ich erinnere mich dadurch immer wieder daran, wie die Musik und die Musiker atmen müssen. Die Psychologie des Orchesters ist dabei sehr wichtig. Ich denke, es ist vermessen zu glauben, dass man dem Ensemble immer etwas erzählen kann, was es nicht schon weiß. Die meisten Musiker haben viel mehr Erfahrung als der Dirigent. Es kommt darauf an, gemeinsam die Vision des Komponisten zu finden und zu übertragen. Am Ende ist es der Komponist, der das Orchester leitet. Das hat mir auch meine Zeit als Trompeter gezeigt.
Beitragsbild: Andris Nelsons 2018 © Marco Borggreve