Zukunft trifft Vergangenheit

Vom 6. bis zum 23. Juni bieten längst vergessene Bauten Raum für Musik, Kunst und Kultur: alte Zechengebäude, eine ehemalige Brauerei oder auch der alte Wartesaal am Bahnhof in Herne. Es sind durch die Industrialisierung geprägte Gebäude, welchen das Festival Blaues Rauschen neues Leben eingehaucht wird. Die Avantgarde der elektronischen Kunst findet hier Platz zwischen alten Gemäuern, Überresten der so geschichtsträchtigen Vergangenheit des Ruhrgebiets. Es ist die Zukunftsmusik, die die Vergangenheit aufwirbelt und in ein, im wahrsten Sinne des Wortes, neues Licht rückt. Drei der insgesamt neun Veranstaltungen habe ich beigewohnt und bin eingetaucht in eine Welt abseits des Mainstreams, hinein in die avantgardistische Kunst der Elektromusik.

10. Juni 2023, Tresor.West in Dortmund

Außenbereich. Niemand rührt sich. Spannung macht sich breit. Alle Blicke sind auf sie gerichtet. Sie heißt Moon Ribas. Ribas steht auf der Bühne, keine Bewegung, kein Zucken, sie steht einfach nur da. Dann ertönen elektronische Klänge, einer nach dem anderen. Erst langsam, dann aufwühlend. Und Ribas? Sie bricht aus ihrer Starre heraus und bewegt sich, mal langsam, mal schnell, fließend in ihrer Bewegung und doch ruckartig. Die Klänge gehen zurück in ihrer Intensität und beruhigen sich wieder, so wie Ribas, die in ihre Ausgangsposition zurückkehrt und wieder nur dasteht. Einige Minuten verharrt sie, vermute ich, ich habe das Zeitgefühl völlig verloren. Dann bricht sie wieder aus ihrer Starre und räkelt sich, sie bewegt die Arme nach vorne und den Kopf nach hinten, sie öffnet sich, um sich im nächsten Moment wieder zu schließen. Ihre Bewegungen sind wellenartig, aber sie enden nie abrupt, sondern münden in einer weiteren Bewegung, bis sie wieder still dasteht. Die Klänge kommen von Quim Giron, welcher hinten auf der Bühne am Mischpult steht und die Performance von Ribas nicht nur begleitet, sondern beeinflusst.

Es ist einer von vielen Auftritten des Festivals Blaues Rauschen. Künstler:innen aus aller Welt kommen ins Ruhrgebiet und treten in Essen, Gelsenkirchen, Bochum, Herne und Dortmund auf. Künstler:innen die experimentelles wagen. So auch das katalanische Duo um Ribas und Giron, welches sich in ihrer Performance durch die Aufzeichnung von Erdbeben in Echtzeit leiten lässt und so die Bewegung der Erde auf die Bühne bringt, daher auch der Titel “Seismic Interference”. Es sind in der Regel drei bis vier Auftritte pro Abend, aufgelockert durch Pausen, welche Raum für Austausch bieten, sowohl untereinander als auch mit den Künstler:innen selbst. Dann geht es weiter.

“Doch je länger das Rauschen im Raum steht, desto mehr erkenne ich.”

Kleiner Clubraum. Dicht versammelt steht das Publikum um einen Tisch herum. Im Fokus steht Ji Youn Kang. Sie verkabelt ein Xylophon, schließt also die Klangplättchen an Strom an und erzeugt mit metallenen Gegenständen ein Rauschen, sobald diese mit dem Xylophon in Kontakt kommen. Zunächst sind es einzelne Töne. Es klingt wie das Feedback, wenn eine Musikanlage angeschlossen wird, ein Fiepen, Quietschen, ein lautes Schrillen. Kang experimentiert mit den Gegenständen und Platten. Bei welcher Berührung wird welches Rauschen erzeugt, wie klingt es, wenn Metallgegenstände einfach auf dem Xylophon liegen bleiben? Es entsteht ein Wirres Etwas, laut und dissonant, ohne Struktur. Doch je länger das Rauschen im Raum steht, desto mehr erkenne ich. Obertöne erklingen, welche sich, je nach Bewegung von Kang, verändern. Wenn sie auf das Xylophon drückt und mehr Kraft auf die Gegenstände ausübt, verändert sich das Rauschen. Wenn Kang die Gegenstände verschiebt, sie wegnimmt, mehr Gegenstände hinzulegt, verändert sich das Rauschen.

Großer Clubraum. Elena Colombi steht am DJ-Pult und legt auf. Gemäß dem Motto des Festivals, erschallen elektronische Klänge. Klänge die zunächst nicht zum Tanzen anregen. Es gibt keinen klaren Beat, keine Akkordfolgen. Doch nach einiger Zeit wandelt sich das Bild und die avantgardistische Musik verschmilzt mit einem Techno-Beat, mit Elementen aus dem Jungle oder dem Post-Punk. Irgendwie anspruchsvoll, so würde ich es nennen, denn wenn ich gerade das Gefühl bekomme, dass es nicht ganz stimmig ist, bekommt Colombi die Kurve und heizt das tanzende Publikum an. Von kurzen melodischen und rhythmischen Ausreißern und unkonventionellen Klängen springt Colombi wieder zurück. Es ist das Unvorhersehbare, was Colombi sich zu eigen macht und damit das Publikum nicht nur überrascht, sondern in ihren Bann zieht.

14. Juni 2023, Schlegel Kulturclub in Bochum

Der Clubraum in der Kantine der ehemaligen Schlegel-Brauerei ist mit wenigen Sofas und Teppichen ausgestattet. Der Blick von dort aus fällt geradewegs auf den Tisch, auf welchem Midi-Keyboards, ein Mikrofon und Synthesizer Platz finden. Dylan Henner legt auf: ein Werk über die Frage “What is humanity?”. Mithilfe der Gerätschaften vor ihm, spielt und singt er Töne ein, welche in Akkordfolgen und Melodien münden, ein elektronischer Klangteppich, der sich aufbaut. Es erinnert mich an eine dreisätzige Sinfonie. Nur ist diese hier elektronisch und alles andere als klassisch. Der Klangteppich wird zum Wechselbad der Gefühle, mal heiter, dann monoton und bedrückend, mal bedrohlich und dann wieder fragend und zurückhaltend.

Auch das nächste Werk beschäftigt sich mit dem Thema. Diesmal stellt sich Pedro Oliveira die philosophische Frage. Mithilfe einer Form der Dialekterkennungssoftwareintegriert Pedro Oliveira die Stimme der brasilianischen Death-Metal Sängerin Fernanda Lira und baut um diese neugeschaffene Hauptfigur einen dystopischen Klangteppich. Die Stimme der Sängerin ist musikalisch so entstellt, dass der Text nicht zu verstehen ist. Eine Frage an die Menschlichkeit, die in der Düsterheit der Musik keine guten Antworten finden kann. Im Finale der Performance löst sich das Stück in der originalen Textstelle der brasilianischen Death-Metal Sängerin auf.

“Es ist eine Freakshow – im positiven Sinne.”

Der Abschluss des Abends gehört su dance110. Auf der Leinwand im Hintergrund flimmert eine Videoinszenierung auf, als su ihre Show beginnt. Vor der Brust trägt sie einen Rucksack, auf welchem die Zahlen 110 zu erkennen sind. Su beginnt zu tanzen. Dabei nähert sie sich dem Publikum an und scheut sich nicht davor zwischen den Leuten zu tanzen und so der Musik noch mehr Ausdruck zu verleihen. Als sie wieder am Mischpult ankommt, klettert su auf den Tisch und nimmt den Rucksack ab. Dann fängt sie an zu singen. Es ist eine Freakshow im positiven Sinne. Es wirkt alles sehr absurd, ihre Bewegungen, der Gesang, die Videoinszenierung im Hintergrund und der Beat. Doch genau diese Absurdität macht den letzten Akt des Abends so einzigartig.

15. Juni 2023, Alter Wartesaal in Herne

Der alte Wartesaal ist mit Stühlen und einer Bühne bestückt. Die hohe Kuppeldecke und das Backsteingemäuer stehen im völligen Kontrast zu dem, was den Saal erfüllen wird: elektronische Musik und eine Lasershow. Im Hintergrund läuft eine Videoinszenierung, gesteuert von Elizaveta Petcheniouk, als Maria Balabas und Alex Arpeggio anfangen zu Musizieren. Mit Loopstations und wenigen Instrumenten und Geräten spielt das Duo die Musik live ein. Dann fängt Maria an zu singen, mal ist es Gesang, mal Sprache. Es geht um Gefühle, um Glaubensfragen, um gesellschaftliche Themen. Es ist eine gewisse Schroffheit in der Musik auszumachen, in der sich der rumänische Gesang einschmiegt. Doch dann sorgt Maria für eine Überraschung. Ein Raunen geht durch das Publikum. Sie singt tief. So tief, wie man es bei einer Frau nicht erwarten würde. Zumal diese Stimme sehr im Kontrast zu ihrer vorherigen steht. Der Auftritt wird mit Begeisterung hingenommen, denn als das Duo die Bühne verlassen hat, herrscht noch immer tosender Applaus.

Ein Ton. Ein Aufblitzen auf der Leinwand. Wieder ein Ton. Wieder ein Aufblitzen auf der Leinwand. Bernhard Rasinger, der nächste Akt, lässt die Musik Bilder produzieren. Laser, welche auf eine Leinwand projiziert werden. Die musikalischen Parameter spiegeln sich auf der Leinwand wider: Lautstärke, Tonhöhe, Tempo. Mal sind es tiefe Basstöne, gefolgt von einem Laserkreis, der sich wellenartig schließt und zusammenschrumpft. Dann kommen hohe Töne hinzu, dessen Laser hell aufblitzen und wieder verschwinden. Ich fokussiere mich auf die Mitte der Leinwand und lasse die Show auf mich wirken. Es ist ein interessantes Bild, welches stetig seine Form verändert.  Alles, was sich an den Tönen verändert, nimmt Einfluss auf die Lasershow an der Leinwand. Ein surreal wirkendes Spektakel. Etwas Neues, von dem ich nicht wusste, dass ich es so faszinierend finden würde.

Als Chagall auf der Bühne steht und anfängt sich zu bewegen, reagiert B.A.B.Y direkt. Sie leuchtet auf und greift die Bewegungen Chagalls auf. B.A.B.Y (Bionic Assistent for Becoming Yourself) ist eine im Halbkreis stehende Lichtkunstinstallation, welche mithilfe von Sensoren gesteuert wird. Dadurch verwandelt sich Chagalls Tanz in eine Lichtershow. Mal ist es der Gesang, der mich fesselt, dann die Musik, begleitet von der ständigen Performance von Chagall und B.A.B.Y. Auffallend ist Chagalls Anzug, welcher durch seine integrierte Bewegungserfassung unabdingbar für das Zusammenspiel des ungewöhnlichen Duos ist.

Am 23. Juni geht das Festival Blaues Rauschen in seinen letzten Tanz, im Forum Kunst & Architektur in Essen. Es ist ein vielfältiges Angebot, welches Raum für Neuentdeckungen, Diskussionen, Avantgarde, Tanz, Lichtinstallation und vieles mehr bietet.

 

Die Künstler:innen auf Instagram:  

@moonribas @quimgiron @elenacolombi @dylanhenner @pjliveira @su_dance110 @mariabalabas @alexander_arpeggio @elizaveta_berlinovna @brlaser @chaggylalala

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