Von Malte Hemmerich und Thilo Braun
Fällt der Name Pierre Boulez, sind die Lobeshymnen nicht weit: Jahrhundertdirigent, Legende und „Motor der Moderne“- Superlative bestimmen die vielen Nachrufe, die nach dem Tod des französischen Komponisten am 5. Januar 2016 erschienen. Opernfreunde trauerten um den Dirigenten des Bayreuther Jahrhundertrings, junge Komponisten um einen der letzten Großmeister und Kämpfer für die Neue Musik. Doch wer Boulez’ Aufstieg und sein Wirken nur aus den Geschichtsbüchern kennt, steht dieser Lichtgestalt und seiner komplexen Musik mitunter etwas ratlos gegenüber!
Blickt man zum Beispiel auf den Serialismus als ein Markenzeichen von Boulez, wirkt diese Strömung der Neuen Musik schnell wie ein Gefängnis aus mathematischen Formeln und Konstrukten. Lässt aber diese Strenge trotz allem Empfindungen zu?
Jörg Widmann erscheint als der ideale Gesprächspartner, um sich auf unterschiedlichsten Ebenden dem Mythos Boulez zu nähern. Widmann ähnelt ihm nicht nur in seiner Vielseitigkeit als Musiker, Komponist und Dirigent, sondern war auch sein Freund. Die serielle Musik von Boulez ist für ihn eine sehr emotionale Angelegenheit. Wir treffen ihn vor einem Konzert in der Philharmonie Essen:
Boulez selbst spricht von „Labyrinthkompositionen“, in denen er sich „lokale Indisziplin“ erlaube und die Kritiker loben seine Musik, „da immer wieder die Sinnlichkeit über die Struktur triumphiert“. Die Musik von Boulez ist als einzigartig, weil sie die Regeln, die sie sich setzt, im richtigen Moment auch mal ignorieren kann. Aber ist es wirklich so einfach?
Behalten wir diese Frage im Hinterkopf und schauen auf das 1975 uraufgeführte „Rituel in memoriam Bruno Maderna“, dem Boulezschen Lieblingsstück von Jörg Widmann. Auf den ersten Blick wirkt es wie ein verkopfter Koloss. Acht Orchestergruppen spielen sich in eigenen Tempi durch das Stück.
Spätestens nach drei Minuten geht es zu wie in einem Spieluhren-Kabinett. Eine japanische Glocke bimmelt vor sich hin, irgendwo zetern Geigen, dazwischen Flöten- und Oboentöne. Bis zu acht Instrumentengruppen lässt Boulez nebeneinander spielen – und „nebeneineinander“ trifft es hier besser als „miteinander“, denn jedes Kollektiv spielt in einem anderen Tempo, die Uhren ticken asynchron. Dabei steckt hinter diesem scheinbaren Chaos steckt eine Struktur, die selbst dem Zufall Regeln vorschreibt. Dies wird vor allem in den belebteren Abschnitten des Werks deutlich, die im Kontrast zu bedrohlichen Clustern stehen. Die Partitur steckt dort voller Ziffern, Kommentare und Spielanweisungen. „Bis zum Ende der Phrase ohne zu atmen“ muss die Oboe etwa ihre erste Melodie spielen. Innerhalb dieser Gesetze gibt es aber Momente der Freiheit. Ein Melodieinstrument pro Gruppe spielt den Anführer und darf individuell den Moment des Einsatzes bestimmen, das Tempo wiederum wählen die jeweiligen Schlagzeuger. Dieses Prinzip der konzipierten Unordnung, des Zufalls in begrenzten Bahnen, nannte Boulez „Aleatorik“. Es ist kennzeichnend für viele seiner Kompositionen.
Wer das perfekte Chaos inszenieren will, braucht dafür strenge Regeln. Diese Beobachtung scheint zumindest Jörg Widmann zu faszinieren. In seinem Kinderzimmer hing ein Boulez-Plakat direkt neben seinem zweiten musikalischen Vorbild Miles Davies. Vielleicht sind sie sich gar nicht so unähnlich, die beiden. Wäre es etwa unverschämt, der Jazz-Improvisation aleatorische Prinzipien zu unterstellen?
Jörg Widmann selbst sieht Parallelen zwischen seinem Freund Boulez und seiner Arbeitsweise weniger in den Techniken, als im Umgang mit dem existenziellsten Gegenstand einer neuen Komposition: Der ersten, abstrakten Idee und ihrer Verarbeitung.
Und doch gibt es wohl wenige Werke von Boulez, hinter die er selbst einen Schlussstrich setzen konnte. Immer wieder holte er die alten Partituren heraus, feilte und schraubte an ihnen herum, versuchte seinem Ideal noch ein Stück näher zu kommen. Es ist auch dieser Spagat, der bei Boulez fasziniert: Die beherrschende Form einerseits, die Sehnsucht nach klanglicher Schönheit andererseits; nach außen ein kompromissloser Charismatiker, nach innen ein Zweifler und Skeptiker.