Seit über einem Jahr ist es Musikensembles entweder gar nicht oder nur unter strengster Einhaltung der Corona-Maßnahmen erlaubt, vor Ort Proben durchzuführen. Viele Chöre, Orchester und Bands stellt das vor eine große Herausforderung. Dennoch lassen sie sich von der Pandemie nicht einschüchtern und verlegen ihre Proben in den virtuellen Raum. Doch gemeinsam Musizieren auf Distanz – geht das? Sarah Heckner hat an einer digitalen Chorprobe teilgenommen.
„Duda duda du – Wunderbar, wir gehen weiter in die Höhe.“ So gut ich kann, versuche ich die Anweisungen des Chorleiters umzusetzen. Eigentlich keine große Herausforderung, schließlich sind die Gesangsübungen nicht neu für mich. Neu ist jedoch die Situation: Ich sitze alleine vor meinem Laptop und starre angestrengt auf den Bildschirm. Außer mir haben sich noch etwa zwanzig weitere Teilnehmer*innen in die Zoom-Konferenz eingewählt. In einer Kachel ganz oben links sehe ich den Chorleiter. Er sitzt am Klavier, macht die Gesangsübungen vor und über meine Lautsprecher höre ich seine Stimme.
Es ist Donnerstag, 19.00 Uhr. Normalerweise würden die Mitglieder des Gospel-Chores Sunlight Voices zu dieser Zeit gemeinsam in der Paul-Gerhard-Kirche in Unna-Königsborn proben. Aber die Normalität gibt es seit Corona in Chören nicht mehr. Weil es die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie aktuell von Laien-Musikgruppen verlangen, heißt es für viele Chöre und Ensembles jetzt Singen auf Distanz, anstatt der Proben vor Ort. Ich frage mich: Virtuelle Chorproben – geht das? Wie funktioniert das Singen im Chor zu Zeiten von Corona?
Meine Fragen führen mich zu Mattis Markmann, dem Leiter des Gospel-Chores. Über die schwierige Chorarbeit in Corona Zeiten berichtet er: „Wir machen das beste aus der Situation. Die Chorproben finden zur gewohnten Zeit statt und wir erarbeiten neue Stücke. Das tun wir dann nicht in der Kirche, sondern auf digitalem Wege über Zoom.“ Genauso wie die Proben finden auch Konzerte überwiegend im digitalen Raum statt. Die Sunlight Voices planten eine digitale Präsentation ihrer neuen Stücke in Form eines Musikvideos, so Markmann. Die Produktion erfordere jedoch viel Aufwand und technisches Know-how. All das sind neue Aufgaben für den jungen Chorleiter, auf die niemand vorbereitet war.
Damit ich selbst sehen kann, wie das Singen auf Distanz funktioniert, lädt Markmann mich ein, an einer Probe teilzunehmen. Vorab erhalte ich von ihm eine E-Mail mit dem Einladungslink für die Zoom-Konferenz und einem Dropbox-Link. Zur Vorbereitung klicke ich mich durch den Dropbox-Ordner. Er enthält Noten und Demo-Tapes, ein buntes, aufwendig zusammengestelltes Programm aus bekannten Gospelchor-Stücken. Der Song Joyful, Joyful aus dem Film Sister-Act 2 springt mir sofort ins Auge und ich habe die Filmszene im Kopf, bei der die Jugendlichen auf der Bühne zur Musik die Arme in die Luft werfen und auf der Bühne tanzen. Laien-Chöre führen diesen Song auch heute noch mit viel Bewegung und Tanz auf. Ob das auch online geht?
Am Tag der Chorprobe wähle ich mich in den Zoom-Raum ein und warte mit einem Tee an meinem Schreibtisch auf den Beginn der Probe. Zugegeben: Ein bisschen nervös bin ich schon. Schließlich habe ich lange nicht mehr mit anderen Menschen zusammen gesungen und der Gedanke an das digitale Format verunsichert mich. Nach und nach trudeln die Chormitglieder in dem Zoom-Raum ein. Mit der Zeit kommen immer mehr neue Kacheln hinzu. Jedes Viereck ein kleiner Einblick in das heimische Wohnzimmer oder die Küche. Gebannt beobachte ich das Treiben auf den vielen bunten Kacheln. Ich erlebe freudiges Begrüßen untereinander und den beliebten Smalltalk um das Wetter und die Neuigkeiten aus der Nachbarschaft. Dann erhebt der Chorleiter das Wort, grüßt in die Runde und stellt alle Teilnehmenden auf stumm. Abrupt reißen die Gespräche ab. Ein Vorteil der Technik: In einer Präsenz-Chorprobe hätte es wohl wesentlich länger gedauert, bis Ruhe eingekehrt wäre.
Das Einsingen beginnt. Die Lockerungsübungen und Körperaktivierung zwingen mich, aufzustehen. Mache ich zu Beginn noch etwas zögerlich mit, lasse ich mich schon bald mehr und mehr durch die Übungen mitreißen. Es ist amüsant, die vielen Zoom-Kacheln mit den anderen Sänger*innen zu beobachten, zu sehen, wie sie herumhüpfen, Dehnübungen machen und zur Gesichtsentspannung Grimassen schneiden. Außerdem muss ich zugeben, dass es Spaß macht, Teil des komischen Schauspiels zu sein. Plötzlich wird mir bewusst, dass mich die Nachbar*innen aus dem Haus gegenüber beobachten könnten. Ich schaue aus dem Fenster, kann aber zum Glück niemanden entdecken.
Foto: privat
Der Chorleiter singt die Übungen vor, begleitet sich dabei am Klavier und animiert uns zum Mitsingen. Ich singe voller Inbrunst. Ob ich richtig bin, weiß ich nicht genau. Bei einigen unbekannten Übungen erwische ich mich dabei, wie ich aus Unsicherheit leiser singe. Wehmütig denke ich an Chorproben im Präsenzformat zurück. In solchen Situationen konnte ich mich wunderbar von meinen Mitsänger*innen stützen lassen. Bei Übungen für die Höhe hallt meine Stimme von den Wänden wider. Gehemmt durch den Gedanken an meine armen Nachbar*innen führe ich die Übung zu Ende. Ob es den anderen Sänger*innen auch so geht?
Der Chorleiter spricht den Rhythmus einzelner Teile vor, erarbeitet die Stimmen einzelner Stimmgruppen und baut kleine Gesangübungen für die hohen Töne ein. Ein solches Vorgehen kenne ich auch von anderen Proben. Ich merke, wie sich einzelne Chorstellen langsam festigen. Ob es an anderen jedoch noch Optimierungsbedarf gibt, kann Markmann nur vermuten. Präventiv weist er auf schwerere Passagen hin, die den Sänger*innen Schwierigkeiten bereiten könnten. Zu guter Letzt singen wir die Stücke zusammen mit dem Demo-Tape. So kann ich hören, wie sich meine Stimme in den Gesamtklang einfügt. Wenigstens habe ich dabei einmal kurz das Gefühl, Teil des großen Ganzen zu sein. Auch die anderen Sänger*innen scheinen das zu genießen. Auf den Kacheln sehe ich, wie sie singen und sich im Takt bewegen.
Der Abend endet mit einem Segenslied, bei dem ich trotz der räumlichen Entfernung die Verbundenheit der einzelnen Chormitglieder spüren kann. „Das ist ein Ritual“, erklärt mir der Chorleiter später, „das Lied singen wir am Ende jeder Probe.“ Bei der Verabschiedung schalten einige Sänger*innen ihren Ton an: „Das war wunderbar, lieber Mattis. Es hat wieder großen Spaß gemacht!“ – „Danke für die schöne Chorprobe. Bald singen wir wieder zusammen in der Kirche!“ Die Reaktionen sind Ausdruck davon, dass es den Sänger*innen ebenso viel Freude bereitet hat wie mir. Sie zeigen aber auch, dass das digitale Probenformat auch für sie nur eine Übergangslösung ist und viele bereits dem gemeinsamen Singen in der Kirche entgegenfiebern.
Ich verlasse den Zoom-Raum und komme gedanklich wieder in meinem Zimmer an. Ja, den Chormitgliedern stimme ich zu: Es war ein schöner Abend. Ich habe die Gemeinschaft genossen – auch wenn sie nur virtuell war. Ich habe für mich gesungen, konnte meine Stimme üben und musikalische Momente erleben. Trotzdem ist mir in der digitalen Probe klar geworden: Richtig im Chor singen ist für mich etwas anderes. Teil eines Chores zu sein ist viel mehr, als die eigene Stimme fehlerfrei singen zu können. Es geht um gemeinsames Musizieren, um Aktion und Reaktion. Es geht darum, ein Teil des großen Ganzen zu sein, gemeinsam Musik zum Klingen zu bringen und den Moment miteinander zu teilen.