Vokales Leuchten

Feminismus. Die Bewegung des 21. Jahrhunderts. Von wegen. – „Women’s lib“ bildete ihre ersten Wurzeln, nein nicht im 19. Jahrhundert, sondern schon im Mittelalter. Zumindest in der Musik. Da war der Duden doch ein wenig hinterher, der den Begriff erst 1920 aufnahm. Naja sei ihm verziehen, immerhin ist sein Steckenpferd ja die Sprache und nicht die Musik. Das gilt aber nicht für die erste Feministin des Mittelalters: Hildegard von Bingen. Geboren 1098, provozierte sie Kirchenmänner und revolutionierte den Frauengesang. Sie kämpfte mithilfe ihrer Musik gegen die Kirche und deren patriarchalische Strukturen an, wobei ihre göttlichen Visionen sie bestärkten. Komponistin, Medizinerin, Dichterin, Theologin, Kosmologin und Äbtissin. Ein Multtalent also, und der Kloster-Promi zu ihrer damaligen Zeit schlechthin. Und heute wird Hildegard von Bingen als die leuchtende Marke für Mittelaltermusik verstanden.

„Tiburtina trifft mit seiner unverwechselbar seidenweich-klaren Klangfarbe den Kern der Zeit.“

 

Vokales Leuchten konnte man gestern Abend in der Dortmunder St. Marienkirche bestaunen, denn virtuose Sinnlichkeit des Mittelalters interpretierte das Prager Frauen-Ensemble Tirbutina mit einer klanglichen Perfektion. Das Publikum wurde an diesem Abend dank des Gesanges  von dem international erfolgreichen Ensembles betört. Innere Anspannungen schienen die hildegardischen Gesänge zu lösen. Allein durch himmlische Musik: Frauengesang, Harfenklang und Psalterium-Spiel. Wer nicht unbeschwert in den lauen Frühsommerband nach dem Konzert Tiburtinas spazierte, muss wohl taub gewesen sein. Hört sich stark nach esoterischem Chichi an. Eben nicht, denn genau von dieser esoterischen Verklärung distanzieren sich Tiburtinas Sängerinnen. Das tschechische Spitzenensemble für Mittelaltermusik, spezialisierte sich auch auf die Werke der Heiligen Hildegard und trifft mit seiner unverwechselbar seidenweich-klaren Klangfarbe den Kern der damaligen Zeit. Makellose Intonation und die Natürlichkeit der Stimmfarben der sieben Sängerinnen verschmelzen in einem meditativen Gesamtklang. Mit geschlossenen Augen zuhörend, schien das Ensemble aus nur einem einzigen Stimmorgan zu bestehen. Ein erschreckend- schön betörendes Konzert – „Ego Sum homo – Ich bin ein Mensch“, das im Rahmen des diesjährigen Klangvokal Festivals Dortmund stattfand.

Die melismatisch-meditativen Kompositionen setzte das Ensemble mit inniger Ausdrucksstärke um, sodass es dem Konzert weder an Authentizität, noch imposanter Intensität fehlte. Die Zuhörer wurden in den monophonen Gesangsstrudel förmlich hineingesaugt, den Margit Übellackers mit ihrem Psalterium-Spiel untermalte. Zusätzlich wurden wechselnd die Sängerinnen vom Harfenspiel der Sopranistin Hana Blazikova, sowie der Solistin und Leiterin des Ensembles Barbora Kabátkova begleitet. Auf Initiative Kabátkovas gründete sich das Tiburtina Ensemble 2008 in Prag, bestehend aus exzellenten Solistinnen, und spezialisierte sich auf Gregorianischen Gesänge, mittelalterliche Polyphonie, sowie aber auch zeitgenössische Musik. Nicht ohne Grund, zählt Tiburtina mit zu den besten Ensembles für Alte Musik und gibt Konzerte in ganz Europa. Auch tritt es bei führenden Festivals für Alte Musik auf und wird besonders von Kennern dieser Szene für seine klangliche und zeitgetreue Performance hochgeschätzt. Mit Eifer ist das Ensemble auch immer offen für Cross-Over- Projekte, die Mittelaltermusik mit anderen Genres verbindet. Eine Bereicherung für beide Stile sehen die Sängerinnen darin und die Faszination Altes mit Neuem verschmelzen zu lassen. Ganz im Sinne Hildegards, die eben dies in ihren Werken tat. Die Musik der Äbtissin fußt zwar auf den Kompositionstechniken des Gregorianischen Chorals, doch brachte sie ihre ganz eigene Formsprache mit hinein. Lebendiger, fast schon erotischer wirkt Hildegards Musiksprache für die damalige Zeit. Außergewöhnlich sind vor allem aber ihre großen Intervallsprünge in ihren Gesängen. Wohingegen in Gregorianischen Chorälen selten die große Terz überschritten wurde, machte sich Hildegard Sext-, Sept- und Oktavsprünge in ihren Kompositionen zu nutzen. Genau das stellt auch das herausfordernde in der Musik Hildegards dar. Es verlangt Sängerinnen einen großen Stimmambitus ab. Dass dieser keiner einzigen Tiburtina-Sängerin fehlt, bewies das tschechische Ensemble am Dienstagabend.

Im Jahr 2011 veröffentlichte Tiburtina seine erste CD „Flos inter spinas“ (Blüten zwischen Dornen). Zwei Jahre später erschien das darauffolgende Album „Apokalyptis“ und im August letzten Jahres wurde die dritte CD „Ego sum homo“ mit Gesängen Hildegard von Bingen veröffentlicht. Faszinierend, mit welcher Leichtigkeit die schwer-virtuosen Werke der Äbtissin vom Tiburtina-Ensemble in der St. Marienkirche Dortmund gesungen wurden. Ausgebildete Frauenstimmen, die sich am natürlichen Stimmideal orientieren. Unnatürlichkeit war nicht im Sinne Hildegards und ist es auch nicht im dem Tiburtinas. Silbrig-helle Stimmen ohne jeglichen Hang zur Schwere zeichnet die Klangfarbe der Sängerinnen des Ensembles aus. Besonders beeindruckten die interpretierten Antiphonen der Solistinnen Hana Blažíková und Barbora Kabátková. In dem ersten Antiphon „O tu illustrata“ (O du Erleuchtete) ließ Blažíková mit ihrem schleierleichten Stimmorgan die Kirche noch ein wenig heller erleuchten. Auch in den anderen solistisch besetzten Werken glänzten die einzelnen Sängerinnen mit ihrer individuellen Stimmfarbe, die sich aber trotz Individualität in die Klangpallette Tiburtinas perfekt einfügten. Doch die interpretatorische Vollendung gelang Barbora Kabátková in „O spectabiles viri“ (O Menschen in Sicht). Mit ihrem warm-hellen Soprantimbre schien sie am meisten von allen Sängerinnen die Musik zu fühlen und schaffte es diesen Antiphon nicht nur vokale Sinnlichkeit einzuhauchen, sondern vor allem bei den Worten „fuerant morti“ (in den Tod getaucht) mit einem fast erotischen Oktavsprung der Komposition Lebendigkeit zu verleihen.

Alte Musik muss eben nicht altmodisch sein. Denn diese modernen Tschechinnen, die wissen wie man alte Musik neu mit der heutigen femininen Kraft interpretiert, lassen Hildegards visionäre Geist auch im 21. Jahrhundert durch ihre Musik weiterleben. Komponistin Von Bingen wäre dankbar und gerührt gewesen. Und dankbar darf die Musikwelt sein über das Existieren eines so hervorragenden Ensembles. Heißer Tipp für alle fanatischen Feministinnen: Hört euch ein Konzert des Tirbutina Ensembles an!

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