Warum sollen wir uns das antun? Regisseur Krzysztof Warlikowskis Proust-Adaption “Die Franzosen” mit dem polnischen Nowy Teatr ist eine Qual. Und genau deshalb genial. Adele Jakumeit hat die Premiere in der Gladbecker Zeche Zweckel mit viel Koffein überstanden.
Ein Tänzer, bekleidet mit weißen Handschuhen, Jackett und Spitzenschuhen, schiebt eine riesige Pflanze auf die Bühne. Im Publikum lacht jemand. Der breite, langgestreckte Blütenstand des irgendwie zweideutig geformten Gewächses wackelt, während der Hausdiener ihn unter erotisierten Tanzbewegungen mit Wasser besprüht. Die Titanenwurz stammt aus Indonesien, blüht nur einmal im Jahr drei Tage lang, und verbreitet währenddessen beißenden Aasgeruch – um kleine Insekten zur Bestäubung anzulocken. Lateinischer Name: Amorphophallus titanum.
Eine Gesellschaft versinkt im Morast
Die literarische Grundlage der “Franzosen” hat eigentlich wenig mit Botanik zu tun. Das siebenbändige Romanmonster “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” schrieb der französische Schriftsteller Marcel Proust Anfang des 20. Jahrhunderts, es spielt in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. In den Salons der Reichen und Adligen versinken Anstand, Toleranz und Gerechtigkeit im Morast tödlicher Langeweile. Über Politik spricht man nicht, zumindest nicht mit Frauen. Homo- und Bisexualität werden verachtet, üben aber gleichzeitig eine starke Faszination aus. Antisemitismus keimt auf.
Unter dem neuen Titel “Die Franzosen” haben der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski und Dramaturg Piotr Gruszczyński den Proust-Stoff für sein Nowy Teatr adaptiert – stark gekürzt und auf Polnisch. Trotzdem dauert die Aufführung mit zwei Pausen fast fünf Stunden. Bei dem schnellen Sprechtempo scheint es fast unmöglich, der Handlung auf der Bühne und gleichzeitig den deutschen und englischen Übertitel zu folgen. Mit Mut zur Lücke wird es dann aber doch was. Durch kleine Mikrophone verstärkt können die Schauspieler noch so leise vor sich hin murmeln – jeder verräterische Unterton wird hörbar. Obwohl es manchmal rauscht und knackt und man als Zuschauer weder Distanz noch Richtung des Sprechers wahrnehmen kann, schafft diese Sprechweise eine fast schon unheimliche Nähe. Dazu braucht man nicht einmal genau verstehen, worum es gerade geht.
Verflucht seien alle Vegetarier
Nicht das Frankreich der Jahrhundertwende zeigt Warlikowski – unsere heutige Gesellschaft hat er mit Prousts Worten seziert. So wie sich in der Titanenwurz botanische Unschuld und sexuelle Assoziation, Fortpflanzung und Leichengeruch vereinen, arbeitet auch Warlikowski in seiner Inszenierung mit der Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen. Den Affären und Lügen der Charaktere, ihrer Eifersucht und Brutalität setzt er eine schlichte, kühle Eleganz entgegen – die Figuren wirken frustriert und gleichzeitig überheblich, dekadent, aber niemals ordinär.
Der junge bürgerliche Marcel, einfühlsam verstanden und gespielt von Bartosz Gelner, beobachtet als Alter Ego Prousts die High Society genau. Die sechzehn Schauspieler, Musiker und Tänzer des Nowy Teatr verkörpern sie bedrückend selbstverständlich. Ob Magdalena Cielecka als schrecklich schöne Herzogin Oriane, Mariusz Bonaszewski als vor Eifersucht gewalttätiger Charles Swann, Piotr Polak als karrierebesessener, von allen begehrter Charles Morel, Maja Ostaszewska als so sexy wie abstoßende Odette oder Małgorzata Hajewska-Krzysztofik als undurchschaubare Sidonie Verdurin – jeder der Schauspieler macht aus seiner Figur eine Hauptrolle, stürzt sich leidenschaftlich in ihre Abgründe. Immer weiter zieht Warlikowski die Zuschauer hinein ins Moor menschlicher Verdorbenheit, bis Marcels Freund Robert, genial gespielt von Maciej Stuhr, ausrastet. In einer brutalen Hasstirade verflucht er jeden von Aristokrat bis Vegetarier, brüllt ins Publikum, spuckt angewidert sein Essen auf den Tisch und wankt schließlich in einem Ganzkörper-Schutzanzug von der Bühne. Spontaner Zwischenapplaus.
Sex and the City mit Fledermäusen
Warlikowski spinnt ein ganzes Netz aus Anspielungen, von Paul Celans “Todesfuge” bis Stanley Kubricks Film “2001: Odyssee im Weltraum”. Die musikalischen Zwischenspiele sind nur teilweise in den Fluss der Handlung eingebettet, die an Science-Fiction erinnernden Synthie Pop-Einschübe fremdeln mit den pulsierenden Bässen der sich sonst so behutsam einfügenden, sphärisch-düsteren elektronischen Klanglandschaft von Jan Duszyński. Bühnen- und Kostümbildnerin Małgorzata Szczęśniak steckt ihre “Franzosen” in Designermode à la Sex and the City. Das Bühnenbild wirkt pur und reduziert; nur ein Bett, eine chromglänzende Bar und ein Glaskasten auf Schienen. Das passt wunderbar zu Warlikowskis Inszenierung – nur hätte es dafür nicht die Maschinenhalle der Zeche Zweckel gebraucht. Dass sich der Charme des Ortes aber doch nicht ganz ausblenden lässt, merkt man, als bei einbrechender Dunkelheit plötzlich Schatten kleiner Fledermäuse durch die Lichtkegel der Scheinwerfer huschen.
Auch wenn man sich am Ende nur noch dunkel erinnern kann, wie die Geschichte irgendwann mal angefangen hat, die Augen vom Mitlesen brennen, Rücken und Knie schmerzen und vor Konzentration die Synapsen glühen: Die Tortur war nicht umsonst. “Die Franzosen” wirken wie eine Überdosis Gin Tonic – allmählich, aber nachhaltig.
Als Marcel seine Bekannten nach Jahren wieder trifft, sind sie verlebte Wracks, ihr lang kultiviertes Überlegenheitsgefühl weicht der Angst vor dem Sterben.
Die Ruhrtriennale hat das Nowy Teatr bei den Proben in Warschau besucht.