Er fehlt. Schon seit Jahren, in denen ihn Krankheit an seinen zurückgezogenen Wohnsitz in Baden-Baden gefesselt hat. In denen er immer wieder Konzerte angekündigt und im letzten Moment abgesagt hat. In denen er Festkonzerten und Feierlichkeiten ferngeblieben ist, wie letztes Jahr zu seinem 90. Geburtstag. Vor allem aber fehlt da diese leise, umso mächtigere Stimme des Widerspruchs gegen das kulturindustrielle Establishment, gegen die restaurativen Anstrengungen all derer, die erst jetzt auftauchen, um ihre gestrigen Thesen öffentlichkeitswirksam zu inszenieren – wie Jérôme Ducros, der ausgerechnet am Collège de France eine Debatte darüber lostrat, ob es nicht langsam Zeit werde, zur Tonalität zurückzukehren. Am selben Collège de France, an dem Pierre Boulez jahrzehntelang seine Vorträge gehalten hatte. Und die New Yorker Philharmoniker wollen dem Andenken ihres ehemaligen Chefdirigenten nun die nächsten Konzerte widmen. Auf dem Programm stehen Werke von Sibelius und Strauss. Beides ist zynisch. Boulez‘ Einsprüche hatten Gewicht, weil er sein Leben kompromisslos der Idee der Moderne verschrieben hat und gleichzeitig in aller Ambivalenz Teil der Musikinstitutionen war, weil er bewundert wurde als Dirigent, als Komponist und Intellektueller. Und weil er zusammen mit John Cage die bedeutendste Musikerpersönlichkeit der zweiten Jahrhunderthälfte war. Sein Verstummen ist schwer zu ertragen.